Einer von Zehntausenden: Soldaten verabschieden sich von ihren Kameraden
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Bestattung von Juri Strojew, einem 51-jährigen Soldaten, der an der Front starb.
© Quelle: Stanislav Krupar
Kiew. Für die Familie von Juri Strojew ist der Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine besonders bitter, es ist der Tag seiner Bestattung. Angehörige, Freunde und Kameraden nehmen am Freitag in der Wladimir-Kathedrale im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew Abschied von dem 51-jährigen Familienvater. Strojew hat sich vor der russischen Invasion am 24. Februar vergangenen Jahres freiwillig den Streitkräften angeschlossen. In der vergangenen Woche ist er bei russischem Mörserbeschuss im Donbass in der Ostukraine getötet worden.
Sechs junge Soldaten tragen den Sarg vom Leichenwagen in das Gotteshaus, manche von ihnen sehen aus, als wäre die Schulzeit bei ihnen noch nicht sehr lange her. Sie bilden das Ende der Prozession, die ein ukrainisch-orthodoxer Priester anführt. Ihm folgen drei Soldaten, einer davon präsentiert ein Foto des Toten. Dahinter ist ein Soldat mit einer gefalteten blau-gelben ukrainischen Flagge, die er in der Kirche auf den aufgebahrten Sarg legen wird.
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Bestattung von Juri Strojew, einem 51-jährigen Soldaten. Er fiel an der Front und wird genau am Jahrestag des Überfalls beigesetzt.
© Quelle: Stanislav Krupar
Bestattung in Kiew: „Juri ist gestorben, um unser Land zu verteidigen“
Beim Gottesdienst ist die Kirche voll. Viele der Trauernden haben Blumen mitgebracht, sie halten Kerzen in der Hand, deren Schein die ernsten Gesichter erhellt. Geistliche entzünden Weihrauch und besprenkeln den Sarg mit Weihwasser, während Trauergesänge ertönen und Anwesende sich bekreuzigen. „Juri ist gestorben, um unser Land zu verteidigen“, sagt der Priester. Er bittet Gott, die Seele des Toten in Empfang zu nehmen und ihm seine Sünden zu vergeben.
„Angst ist ein Gefühl, das einen an der Front die ganze Zeit verfolgt, egal, was du machst. Man gewöhnt sich dran, aber die Angst ist immer da.“
Roman Fedorow,
ukrainischer Soldat auf Fronturlaub
Bei der Trauerfeier ist auch Roman Fedorow, er war am Tag der russischen Invasion gemeinsam mit Strojew nordwestlich von Kiew zur Verteidigung der Hauptstadt eingesetzt. Jetzt kämpft er im Donbass, ist derzeit aber auf Fronturlaub. „Angst ist ein Gefühl, das einen an der Front die ganze Zeit verfolgt, egal, was du machst“, sagt der 33-Jährige. „Man gewöhnt sich dran, aber die Angst ist immer da.“ Ob er angesichts seiner getöteten Kameraden Wut empfinde? „Ich empfinde Ekel gegenüber den Russen“, sagt er. Ob er damit den russischen Präsidenten Wladimir Putin meine? „Ich meine alle Russen.“
Auch Olha Komarnyzkas Ehemann hat den Jahrestag des Krieges nicht mehr erlebt. Die 40-Jährige legt am Freitag Blumen an der Wand der Erinnerung nieder, die sich über die südliche Mauer des St.-Michaels-Klosters in Kiew erstreckt. Komarnyzka streichelt über das Foto ihres Mannes, der im Donbass gefallen ist. Anschließend sagt sie, sie empfinde Hass. Die Ukraine könne nie wieder in friedlicher Nachbarschaft mit Russland leben. „Die einzige Option ist, die russischen Soldaten aus unserem Land zu vertreiben, eine Mauer hochzuziehen und alle Verbindungen zu kappen.“
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Kiew, ein Jahr nach dem Überfall: Menschen trauern.
© Quelle: Stanislav Krupar
Mit den Bildern an der Wand der Erinnerung wird Ukrainern gedacht, die Opfer der russischen Aggression seit 2014 wurden. Damals hat Russland völkerrechtswidrig die Krim annektiert, prorussische Separatisten übernahmen Gebiete im Donbass. Aus Sicht der Ukraine hat der Krieg bereits 2014 begonnen, nicht erst mit der Invasion vor einem Jahr.
Kiew am Jahrestag des Überfalls: In Granathülsen stecken Rosen
Über Dutzende Meter hinweg erinnern Fotos an der Wand der Erinnerung an die vielen Gefallenen, chronologisch von links nach rechts. Einige Abschnitte der Mauer sind noch frei, es steht zu befürchten, dass auch auf ihnen bald die Bilder von Toten prangen werden. In leeren Granathülsen vor der Mauer stecken Rosen. Auf dem Michaelplatz vor dem Kloster sind Wracks von erbeuteten russischen Panzern ausgestellt, ein Zeichen des Triumphs. Russische Truppen standen kurz nach Kriegsbeginn schon vor den Toren Kiews. Es ist ihnen aber nie gelungen, die Hauptstadt einzunehmen.
RND-Reporter Can Merey in Kiew: „Ukrainer lassen sich nicht unterkriegen“
Ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ist der Krieg Alltag für die Menschen geworden. RND-Reporter Can Merey berichtet von einer Schule in Kiew.
© Quelle: RND
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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist damals nicht aus Kiew geflohen. Für viele Ukrainer ist er damit zum Helden geworden. Der frühere Schauspieler erinnert am Freitag auf Twitter mit einem knapp eineinhalbminütigen Video an den Kriegsbeginn, der kurze Film muss den Qualitätsvergleich mit Kinotrailern nicht scheuen. Szenen von Leid und Zerstörung sind dort zu sehen, aber auch Szenen des Widerstands und des Kampfs gegen die Angreifer. „Am 24. Februar haben Millionen von uns eine Entscheidung getroffen. Nicht für eine weiße Flagge, sondern für die blau-gelbe“, schreibt Selenskyj dazu. „Es war ein Jahr des Schmerzes, der Trauer, des Glaubens und der Einigkeit. Und in diesem Jahr sind wir unbesiegbar geblieben. Wir wissen, dass 2023 das Jahr unseres Sieges sein wird!“
Die Ukrainer zeigen Putin zum Jahrestag den Mittelfinger
Ob der Krieg in diesem Jahr tatsächlich endet, ist ebenso ungewiss wie die Frage, wer sich in dem blutigen Konflikt durchsetzen wird. Die Schlacht an der PR-Front dürfte Selenskyj allerdings schon längst gegen Putin gewonnen haben, was sich nicht nur an dem jüngsten Video zeigt. Zu den vielen Unterstützern der Ukraine gehört der Schauspieler Mark Hamill, bekannt als Luke Skywalker aus der „Star Wars“-Saga. Auf der offiziellen ukrainischen Luftalarm-App für Handys erklingt seit Ende vergangenen Jahres seine Stimme, wenn Entwarnung gegeben wird. „Achtung, der Luftalarm ist vorbei“, sagt Hamill alias Skywalker dann – und fügt den ikonischen „Star Wars“-Spruch hinzu: „Möge die Macht mit dir sein.“
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Wie Russlands Krieg an der Weltordnung rüttelt
Putins Krieg gegen die Ukraine teilt die ganze Welt neu ein. Die Frontlinie verläuft nicht nur zwischen Russen und Ukrainern, sondern zwischen Demokratien und Diktaturen. Auf bittere Weise muss auch Deutschland wieder aufrüsten, um Kriegsverbrecher auf Abstand zu halten.
Die Ukrainer zeigen Putin am Jahrestag quasi den Mittelfinger. Die ukrainische Post veröffentlicht am Freitag eine Briefmarke, die ein Bild des britischen Streetart-Künstlers Banksy zeigt, der ebenfalls ein Unterstützer der Ukraine ist: Ein Kind legt in einem Judoduell einen viel größeren Mann auf den Rücken. Der russische Präsident ist bekennender Judoka. Am Hauptpostamt in Kiew stehen die Menschen Schlange für die Erstausgabe der Marke, auf der unten links in kyrillischen Buchstaben das Äquivalent zu FCK PTN steht. Jeder hier kennt das Kürzel – und weiß, dass es für „Fuck Putin“ steht.
Mitarbeit: Yurii Shyvala