„Die Zwanziger Jahre sind ein im Nachhinein geschaffener Mythos“

Schauspielerin Liv Lisa Fries in der Zwanziger-Jahre-Serie „Babylon Berlin“.

Schauspielerin Liv Lisa Fries in der Zwanziger-Jahre-Serie „Babylon Berlin“.

Herr Sabrow, die Zwanziger Jahre lösen wie kein anderes Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts alle möglichen Bilder von politischer Angst bis zum exzessiven Tanz auf dem Vulkan aus. Was sind die Zwanziger Jahre für einen Zeithistoriker?

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Martin Sabrow: Die Zwanziger Jahre sind ein im Nachhinein geschaffener Mythos, der eine Facette der Weimarer Republik hervorhebt und medial inszeniert. Die Zwanziger Jahre leben vom Kontrast zwischen den tristen Folgen des Ersten Weltkriegs und dem Glamour der kulturellen Avantgarde und des urbanen Amüsement. Dieser Gegensatz ist das Leitmotiv des Jahrzehnts, das kommt in den Bildern von George Grosz grell und leitmotivisch vor – die Krüppel, die Prostitution, das Elend, der Schieber, die überhitzte Stimmung, das Fiebrige, der Tanz auf dem Vulkan. In ihm steckt der Eindruck der Diskontinuität, des Abreißens, des unwiederbringlichen Verlusts mit dem Beginn von Hitlers Herrschaft.

Vor allem verbindet sich dieses Bild mit der Metropole Berlin.

Ja, auch das ist zum Teil ein nachträglich entstandenes Bild. Die Rückschau aus dem geteilten Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg liebte den elegischen Blick auf eine verlorene Weltmachtstellung, als Berlin mit Paris und London auf Augenhöhe konkurrierte. Heute lebt das Bild der Zwanziger Jahre von der Wiederholung. Das 100-jährige Jubiläum belebt die Erinnerung an die Goldenen Zwanziger und die roaring twenties in den USA, und es gibt den Blick frei auf die vielen Verbindungslinien, die die Weimarer Jahre mit der Zeit nach 1945 und noch der Gegenwart verbinden.

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Historiker Martin Sabrow.

Historiker Martin Sabrow.

Von wann bis wann geht für Sie die Epoche der Zwanziger Jahre?

Die Goldenen Zwanziger beginnen als Epoche mit der wirtschaftlichen Scheinblüte nach dem Ende der Hyperinflation 1923 und enden eigentlich schon wieder in der Wirtschaftskrise ab 1929. Die Fieberhaftigkeit dieser Epoche kommt auch daher, dass sich die Zeitgenossen bereits bewusst waren, dass die Blüte kurz sein würde, dass sich die Epoche quasi selbst verzehrt. Das Bild der Zwanziger Jahre hat das Element der Scheinblüte in sich. Man tanzt Charleston, während draußen das Land von Krise zu Krise taumelt und der politische Mord die Szenerie beherrscht.

Die Epoche beginnt und endet in Gewalt, wie sehr prägt sie das?

Die Gewalt zog sich durch die ganzen Zwanziger Jahre, aber sie hatte unterschiedliche Ausprägungen. Am Ende standen die Straßenschlachten zwischen SA und Kommunisten, am Anfang standen der Kapp-Putsch und die politischen Morde durch Rechtsterroristen an demokratischen Politikern. Der Zentrumspolitiker und frühere Finanzminister Matthias Erzberger wurde 1921 ermordet, Reichsaußenminister Walther Rathenau 1922. Attentate und Putschversuche waren ein genuiner Teil der gewalttätigen politischen Kultur Weimars. Die Enttäuschung über den Versailler Vertrag vom Juni 1919 führte zu dem Umschwung vom revolutionären Erneuerungswillen des Winters 1918/19 zur restaurativen Empörung über den sinnlos bezahlten Preis eines verlorenen Weltkrieges. Auf diesem Boden gediehen die rechtsextremen Verschwörungstheorien, die dann das Nachkriegsjahrzehnt prägen.

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Wir haben ja eine Konjunktur der schiefen Vergleiche mit den Zwanziger Jahren. Beim Mord an Walter Lübcke im Frühjahr 2019 wurde sofort wieder an Erzberger und Rathenau erinnert. Was nützen solche Vergleiche?

Der Vergleich ist eine der wichtigsten sinnweltlichen Operationen, um die eigene Lage zu begreifen. Die Vergangenheit stellt in unserer Zeit zudem eine entscheidende Ressource unserer Selbstverständigung und auch der Identitätsbildung dar. Aber der historische Vergleich wird schnell auch trügerisch. Geschichte wiederholt sich nicht. Sie kann es schon deshalb nicht, weil die Zeitgenossen vor 100 Jahren sich auch wieder an einem anderen historischen Beispiel orientiert haben. Jeder Vergleich hinkt, aber er kann immer auch Orientierung bieten, wenn er nicht platt als historische Instruktion und Lehrbeispiel verstanden wird. Die Gefahr besteht darin, dass Geschichte gerade in unserer Zeit immer stärker als Spiegel der Gegenwart begriffen wird.

Was bedeutet das für die Weimar-Vergleiche?

Auf einer sehr abstrakten Ebene ist der Vergleich mit den Zwanziger Jahren so aktuell wie plausibel: Demokratie ist keine feste Burg. Sie ist fragil, sie kann sehr schnell den Boden der gesellschaftlichen Akzeptanz verlieren. Diese Erkenntnis ist mit der allmählichen politisch-kulturellen Festigung der Bundesrepublik in den Hintergrund getreten. Spätestens mit der Vereinigung beider deutscher Staaten 1990 war sie verschwunden. Stattdessen galt auch für den demokratischen Rechtsstaat, den Überraschungssieger der Systemkonkurrenz des 20. Jahrhunderts, die Unschlagbarkeitsvermutung, die Franz Beckenbauer auf die deutsche Fußballnationalmannschaft gemünzt hatte.

„Jetzt werden wir auf Jahre hinaus unschlagbar sein“, sagte Beckenbauer – im Fußball war das schnell widerlegt …

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… in der Politik dauerte es länger, bis zur Auseinandersetzung über die Kontinente und Meere überwindende Migration aus Nahost und Afrika 2015. Wir haben gesehen, zu welchen politischen Eruptionen die im historischen Maßstab – man denke nur an die Belastung der Nachkriegszeit durch Flucht und Vertreibung – so geringfügige Fluchtbewegung der Jahre 2015/16 führen konnte und dass eine rechtsextreme Partei seither bis zu einem Viertel der bundesdeutschen Wähler an sich binden kann.

Man kann ja in Deutschland über die Krise der Demokratie nicht ohne den Weimar-Vergleich sprechen.

Das stimmt. Wenn wir aber konkret werden, zeigen sich eklatante Unterschiede zwischen heute und der Zeit vor 100 Jahren. Das beginnt mit den wirtschaftlichen Verhältnissen und den globalen Verflechtungen des Nationalstaats. Die sozialen Schichtungen sind heute sind nicht mehr die der Weimarer Republik. Die Bundesrepublik ist von einer demokratisch denkenden Mittelschicht getragen, die sich universalen Werten verpflichtet sieht. Wir haben nicht mehr drei Gesellschaftsordnungen, die miteinander konkurrieren – Kommunismus, Faschismus und liberaldemokratischer Rechtsstaat. Auch die AfD stellt die Demokratie als Gesellschaftsordnung nicht in Frage. Der Rechtsradikalismus heute trägt keine messianischen Züge, er hat keine Visionen, und seine politische Praxis konzentriert sich auf die schadenfrohe Nörgelei und die unablässige Provokation des vermeintlichen Establishments, auf dessen Empörung er angewiesen ist, um Aufmerksamkeit zu erzielen.

Wer gehört alles zu diesem Establishment?

Von der CSU bis zur Linkspartei beobachten wir gegenwärtig eine einigermaßen homogene politische Kultur. Darin liegt ein fundamentaler Unterschied zu den Verhältnissen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Der beängstigende Aufstieg einer radikalen Rechtspartei ist auch der Preis dafür, dass sich die alten politischen Lagergegensätze vielfach aufgelöst haben. Der unreflektiert verwendete Weimar-Vergleich kann auch zum alarmistischen Problemverstärker werden, der die Gefahr noch schürt, die er abwehren will werden. Auch wenn in Thüringen ein knappes Viertel der Wähler für die Partei eines bekennenden Rechtsextremisten stimmt, der mit seiner Nähe zum Nationalsozialismus kokettiert, ist der Vergleich mit 1930 irreführend, als die NSDAP in Thüringen zum ersten Mal eine Regierung eroberte. Der Weg der 1930er Jahre führte von Weimar nach Buchenwald, der Weg der 2020er Jahre vielleicht in eine andauernde Auseinandersetzung zwischen liberaler und illiberaler Demokratie – nicht schön, aber nicht dasselbe. Suggestiv verwendete Vergleiche bergen die Gefahr, dass wir die entschiedene Gelassenheit verlieren, die am ehesten dafür sorgen kann, dass der Rechtspopulismus wieder in der Bedeutungslosigkeit versinkt.

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Jenseits des Politischen waren die 1920er Jahre auch eine Epoche rasanter technischer Modernisierung. Ist das mit heute vergleichbar?

Heute ergeben sich durch die Digitalisierung vielleicht sogar noch tiefer greifende, aber jedenfalls ganz andere Herausforderungen, die überdies auf eine gänzlich andere gesellschaftliche Verfassung treffen. Da hilft ein Vergleich mit der Zeit vor 100 Jahren wenig. Zeithistoriker sind keine Zukunftsexperten. Auf festem Boden arbeiten sie erst nach epochalen Einschnitten. Stehen wir heute am Ende der automobilen Ära? Erst wenn wir das wissen, können wird den vor 100 Jahren einsetzenden Siegeszug des Autos aus historischer Distanz beurteilen. Vorderhand bleibt nur die Erkenntnis, dass das Auto selbst ein Symbol des dauernden Umbruchs ist. Die Ablösung der Eisenbahn durch den Kraftwagen beförderte nicht nur aus Preisgründen zunächst eine Ent-Demokratisierung der Gesellschaft. Das gerade von Adel und Wirtschaftseliten begrüßte Auto bot die Möglichkeit, vom Herrenreiter zum Herrenfahrer zu werden und das Zeitalter der gleichmacherischen Bahn hinter sich lassen zu können. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Auto zum demokratischen Ausdruck einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft und heute zum Wahrzeichen der klimatischen Apokalypse.

Die 1920er Jahre gelten als Zeit der gesellschaftlichen Modernisierung, der Emanzipation der Frau, der wilden Experimentierfreude. Hundert Jahre und viele gesellschaftliche Experimente später – leben wir nicht in einer eher braven Zeit?

Wiederum: Alles, was ich darüber als Zeithistoriker sage, muss schon deswegen falsch sein, weil wir den Endpunkt unserer heutigen Epoche nicht kennen. Der Epochenschnitt aber bildet den Sehepunkt, von dem der Historiker zurückblickt. Gleichwohl wage ich die Prognose, dass wir aus der Perspektive der Nachgeborenen in einer Zeit des elektrifizierten Biedermeier leben. Unsere Zeit hat keine klaren Zukunftsperspektiven mehr. Wir versuchen uns die Gegenwart so angenehm wie möglich zu machen, und wenn Zukunft ins Spiel kommt, dann allenfalls als Dystopie, als negative Utopie und Sorge vor einer unbeherrschbaren Welt von morgen. Die Idee des Fortschritts macht uns eher Angst als Hoffnung, und wir leben nicht mehr mit dem Credo des Fortschrittszeitalters, dass unsere Kinder es dereinst besser haben werden.


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