Die vergessenen Opfer des Holocaust

Mahnmal für die in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma am Reichstag in Berlin.

Mahnmal für die in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma am Reichstag in Berlin.

Berlin/Hamburg/Auschwitz. 1,1 Millionen Menschen wurden zwischen 1940 und 1945 im Konzentrations-und Vernichtungslager Auschwitz umgebracht. Die allermeisten von ihnen waren Juden, rund 960.000.

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Doch Auschwitz war im Gegensatz zu Sobibor und Treblinka kein reines Vernichtungslager für die jüdische Bevölkerung. In Auschwitz litten und starben auch polnische Widerstandskämpfer, sowjetische Kriegsgefangene und andere Häftlingsgruppen. Das macht die Erinnerung komplizierter.

Und Auschwitz war nicht allein Schauplatz der industriellen Vernichtung der europäischen Juden, sondern auch eines zweiten versuchten Völkermordes: dem an den europäischen Sinti und Roma. 20.000 von ihnen waren im “Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau eingesperrt – unter katastrophalen Bedingungen.

Krankheiten verheerten das Lager, täglich starben bis zu 30 Insassen, die Kinder zuerst. Die SS trieb viele der Kranken in die Gaskammern. Am 2. August 1944 umstellte die SS das „Zigeunerlager“. Alle verbliebenen 2897 Insassen sollten umgebracht werden.

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"Ihre Schreie hallten die ganze Nacht"

Sie wurden auf Lastwagen verladen. Der Historiker Nikolaus Wachsmann schreibt über diese Massentötung: „Als man die Häftlinge schließlich zum Aussteigen zwang, wussten sie alle, was geschehen würde, und ihre Schreie hallten die ganze Nacht durch Birkenau. Manche wehrten sich bis zuletzt.“

Bis zu einer halben Million „Zigeuner“ wurden Opfer des Nationalsozialismus. Nach langer Debatte wurde 2011 in Berlin südlich des Reichstags ein Denkmal für die Opfer des „Porajmos“ errichtet. Das Romanes-Wort bedeutet auf Deutsch „das Verschlingen“ und steht für den „zweiten Holocaust“ des Weltkrieges.

75 Jahre nach Kriegsende, 75 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager müssten eigentlich alle Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung anerkannt und entschädigt sein. Aber sie sind es nicht.

Die Geschichte des Auschwitz-Häftlings und Judenretters Willy Brachmann zeigt einen bisher aussichtslosen Kampf um Anerkennung. Er trug in Auschwitz den grünen Winkel der „Berufsverbrecher“. Der Hamburger kam aus ärmlichen Verhältnissen, versuchte früh, sich und seine Familie durch Diebstähle durchzubringen.

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Mit 14 wurde er das erste Mal verhaftet, sein Vorstrafenregister erstreckte sich bald über zwei Seiten. Die Nazis verschleppten ihn 1938 zur „Vorbeugehaft“ ins KZ Sachsenhausen. Im August 1940 wurde der Hamburger zusammen mit anderen „Berufsverbrechern“ in das frisch errichtete Konzentrationslager Auschwitz deportiert.

Die SS machte die Kriminellen gerne zu Kapos, Funktionshäftlingen also, die die anderen Insassen zu beaufsichtigen hatten. Dabei war die Brutalität der Kriminellen ein gezielt von den Nazis eingesetztes Unterdrückungsmittel. Auch Brachmann wurde Kapo, später auch Lagerältester. Aber im Gegensatz zu anderen bewahrte er sich seine Menschlichkeit.

Er rettete den zwölfjährigen Mischa Grünwald vor dem Tod in der Gaskammer, versorgte eine schwangere Häftlingsfrau mit Essen. Die Malerin Dina Gottlieb wurde im KZ seine Geliebte. Sie sagt: „Gottlieb berichtete 50 Jahre später mit einem Lächeln: „Er war ein anständiger Mann. Er hat mich tatsächlich geliebt, und nach einer Weile liebte ich ihn auch.“ Brachmann soll auch dem kommunistischen Widerstand im Lager geholfen haben.

Vorstrafen: "1945 Auschwitz"

Brachmann überlebte Auschwitz, floh aus dem Todesmarsch, kehrte zurück nach Hamburg.1946 kam er wieder wegen eines Diebstahls in Haft. Ein Vermerk über seine Vorstrafen besagte lapidar: „1945 Auschwitz.“

1982 starb er in Hamburg. Als Opfer anerkannt und entschädigt wurde er nie. Die Historikerin Anna Hájková von der britischen Universität Warwick, die ein Buch über Brachmanns Leben schreibt, hat ihn jetzt als „Gerechten unter den Völkern“ in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem nominiert.

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Auschwitz-Zeitzeugin: „Ich wollte noch einmal die Sonne sehen“

Die Auschwitz-Überlebende hatte bis ins hohe Alter in Schulen und Bildungseinrichtungen ihre Geschichte erzählt. Sie ist 98-jährig im Oktober 2021 verstorben.

Heute leben nur noch fünf bis zehn dieser letzten vergessenen KZ-Opfer, schätzt der Bundestagsabgeordnete Erhard Grundl. Der Grünen-Politiker setzt sich seit zwei Jahren führ ihre Anerkennung ein. Nun ist er kurz vor dem Ziel: Im Bundestags-Kulturausschuss sind Regierungsfraktionen, FDP und Linke dem Beispiel der Grünen gefolgt und sprechen sich nun für die Anerkennung und Entschädigung der Opfergruppen der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher aus.

„Niemand war zu Recht in einem KZ“, stellt Grundl klar. Viele Betroffene hätten aus Scham geschwiegen. „So entstanden Leerstellen in den Familien und Lücken im kollektiven Gedächtnis. Umso wichtiger ist es heute das Schweigen zu brechen“, sagt der Abgeordnete dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Die Geschichte von Willy Brachmann, Dieb und Retter, gehört dazu.

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