Die Türkei im Vielfrontenkrieg
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Wo Europa und die USA ein Machtvakuum hinterlassen, ist die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan zur Stelle.
© Quelle: -/Turkish Presidency/AP/dpa
Berlin. Noch ehe der von Kanzlerin Angela Merkel vermittelte Dialog zwischen der Türkei und Griechenland in Gang kommen konnte, übt sich die türkische Regierung erneut in Provokation. Auf ihr Geheiß verließ am Montagmorgen das Forschungsschiff „Oruc Reis“ den Hafen von Antalya, um nach Erdgasfeldern südlich der griechischen Insel Kastelorizo zu suchen. „Und wenn es da Gasvorkommen gibt, werden wir sie ganz sicher finden“, gab Energieminister Dönmez dem Schiff mit auf den Weg.
Das ist der Ton einer politischen Führung, die kaum noch etwas auf Diplomatie gibt. Präsident Erdogan scheut die Eskalation nicht. Im Gegenteil. Er sucht sie und verschärft sie.
Der türkisch-griechisch-zypriotische Gasstreit ist nur einer von inzwischen irrwitzig vielen Konfliktherden mit unrühmlicher türkischer Beteiligung. Von Nordafrika über Nahost bis hin zum Kaukasus tritt die Türkei als offensive Regionalmacht in Erscheinung.
Erdogan lässt sich keinen Konflikt entgehen
In Libyen hat sie den Bürgerkrieg zugunsten der Zentralregierung in Tripolis wenden können. In Syrien und im Irak gehen türkische Truppen mit lokalen Verbündeten massiv gegen Kurden vor. Im wieder aufgeflammten Konflikt im Kaukasus steht Ankara Aserbaidschan im Kampf gegen Armenien offenbar nicht nur rhetorisch bei, sondern auch militärisch. Ankara hätte seinen Einfluss in Baku geltend machen können, um die Auseinandersetzung mit Armenien zu entschärfen. Doch auch diesen Regionalkonflikt lässt Erdogan sich nicht entgehen, um seinen geopolitischen Einfluss unter Beweis zu stellen.
Jeder Kriegs- und Krisenschauplatz, den die Türkei betritt, steigert ihr Ansehen in der Welt – dieses irrige Machokalkül leitet Erdogan. Unter seiner Führung nimmt die türkische Außenpolitik immer aggressivere Züge an.
Erklärungen für die neue Unverfrorenheit am Bosporus liefert die internationale Unordnung. Früher genügte ein Anruf aus Washington, um die nationalistischen Eiferer in Ankara zur Räson zu bringen. US- Präsident Donald Trump aber interessiert sich nicht für die Probleme diesseits des Atlantiks. Oder, schlimmer noch, er heizt sie an, indem er Erdogan zu neuen Abenteuern ermuntert.
Dieser muss die EU nicht fürchten. Zu ängstlich und gespalten sind die Europäer, als dass sie ihrem Anspruch genügen und als geopolitische Macht auftreten könnten. Der Westen hast ein Machtvakuum geschaffen, das die Türkei zu besetzen versucht. Dass sie dabei immer öfter Russland gegenübertritt, liegt nahe. Ob in Libyen, Nahost oder im Kaukasus – auch Moskau strebt in die Leerstellen, die Amerikaner und Europäer hinterlassen.
Türkische Außenpolitik: Kein Konzept, keine Strategie
Erdogan will die zeitgleiche Konfrontation mit dem Westen und mit Russland als Ausweis stolzen Mutes verstanden wissen. Und tatsächlich verfängt ihre nationalistische Rhetorik bei etwa der Hälfte der Türkinnen und Türken, die von einem neoosmanischen Reich träumen. Im Kern aber entspringt der türkische Vielfrontenkrieg Selbstüberschätzung und Strategielosigkeit. Ja, das türkische Militär ist stark. Aber gewiss nicht stark genug, um von Tripolis bis Tiflis zu bestimmen.
Immer wieder neue Kehrtwenden wie jetzt im Gasstreit und wechselnde Allianzen wie in Syrien führen die Konzept- und Ideenlosigkeit der türkischen Außenpolitik vor Augen.
Ihr eigentliches Ziel ist die eigene Bevölkerung. Die Türkinnen und Türken leiden unter einer schweren Wirtschaftskrise. Allein in den zurückliegenden zwölf Monaten hat die Lira im Vergleich zum Euro etwa die Hälfte an Wert verloren. Ihr Niedergang stellt die größte Gefahr für Erdogan dar. Schließlich trat er einst mit dem Versprechen eines türkischen Wirtschaftswunders an und löste dies zwischenzeitlich auch ein. Doch Misswirtschaft und Repression lähmen seit Jahren die türkische Wirtschaft, nun kommt Corona hinzu.
Fantasien von nationaler Größe und unverhofftem Erdgasreichtum sollen die Sorgen der Bevölkerung betäuben. Das Beschwören einer permanenten Kriegsgefahr soll ablenken und eine gespaltene Gesellschaft einen. Es soll die autoritäre Führung Erdogans rechtfertigen.
Dabei dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die Türkei wieder auf finanzielle Hilfe von außen angewiesen sein wird. Bis dahin aber sollten die Europäer nicht abwarten. Erdogan muss jetzt ein klares Wort vernehmen.