Die rassistischen Krawalle von Rostock-Lichtenhagen: ein Schock, der nachwirkt
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Rostock im August 1992: Ein Mann steht vor einem brennenden Pkw auf einer Straße am zentralen Asylbewerberheim von Mecklenburg-Vorpommern in Rostock-Lichtenhagen.
© Quelle: picture alliance / Bernd Wüstne
Liebe Leserin, lieber Leser,
das Entsetzen ist auch 30 Jahre danach immer noch wach. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte am Montag, die Angriffe auf die Bewohnerinnen und Bewohner einer Aufnahmestelle für Asylsuchende in Rostock-Lichtenhagen gehörten „zu den schlimmsten rassistischen Ausschreitungen der deutschen Nachkriegsgeschichte“. Es sei „bis heute erschütternd, dass kaum einer gegen den Mob einschritt“.
Der grüne Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir schrieb bei Twitter, das Pogrom habe ihn „privat und politisch sehr geprägt“. Denn es sei „der brutalste Ausdruck von Rassismus in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ gewesen. Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP notierte, die Bilder machten ihn noch immer „fassungslos“. Und der Hass sei „nicht verschwunden“.
Tagelang belagerten Rechtsradikale das „Sonnenblumenhaus“ im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen, angefeuert von vermeintlich ganz „normalen Bürgern“ und weithin ungestört von der Polizei. Aus der Menge heraus wurden Steine und Brandsätze geworfen. Etwa 150 Menschen konnten sich nur durch Flucht auf das Dach des Hauses vor dem Feuer retten, darunter 120 Vietnamesen und ein ZDF‑Team. Es war der traurige Höhepunkt der vom 22. bis 26. August 1992 andauernden Krawalle vor der Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende und dem benachbarten Wohnheim für Vietnamesen.
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Blick auf das „Sonnenblumenhaus“ im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen. Unter dem Beifall von Schaulustigen kam es 1992 mehrere Tage lang vor dem damaligen Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen zu schweren Ausschreitungen Rechtsradikaler.
© Quelle: Jens Büttner/dpa
Obwohl die Nachrichten in diesen Sommertagen des Jahres 2022 Schreckliches im Übermaß bereithalten: Der Schrecken von Lichtenhagen steckt selbst vielen, die ihn nur am Fernsehschirm erlebten, unverändert in den Knochen. Er bricht bis heute durch. Das will etwas heißen.
In Erinnerung ist dabei, dass die damalige Bundesregierung die Ereignisse einerseits mit deutlichen Worten verurteilte. „Wer Leib und Leben von Menschen gefährdet, Häuser in Brand setzt und Ausländerhass schürt, muss mit der vollen Härte unseres Strafrechts zur Rechenschaft gezogen werden“, sagte Kanzler Helmut Kohl (CDU) am 27. August. „Es darf auch keinen Beifall für die Täter geben.“ Anderseits sagte er in derselben Erklärung: „Der Missbrauch des Asylrechts muss endlich gelöst werden. Dazu zählt auch die Ergänzung des Grundgesetzes. Sie allein löst dieses Problem nicht, ist aber ein wichtiger Schritt zur Eindämmung des Asylmissbrauchs.“ Ein Jahr später wurde das Grundgesetz tatsächlich geändert. Ein bisschen konnten sich die Täter also bestätigt sehen. An den Ort des Geschehens fuhr der Kanzler übrigens nicht. Das übernahm freiwillig der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis.
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Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl bei einem Besuch in Dresden. Nach Rostock-Lichtenhagen fuhr er nach den rechtsextremen Ausschreitungen nicht.
© Quelle: Wolfgang Kumm/dpa
30 Jahre später ist das Bild ebenfalls ambivalent. Die Ampelkoalition lässt die Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten. Davon zeugen nicht nur die Erklärungen der drei Minister, sondern Taten. Am Dienstag etwa besucht der Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, einen Fußballverein: den Internationalen FC Rostock, der sich unter anderem um die Integration von Geflüchteten kümmert. Am Donnerstag reist niemand Geringerer als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in die Hansestadt. Das ist ein Zeichen. Zur Ehrenrettung Rostocks muss man sagen, dass die fremdenfeindliche AfD dort bei der letzten Kommunalwahl lediglich 9,6 Prozent der Stimmen holte. Das ist in Ostdeutschland weit unterdurchschnittlich.
Freilich blieb Rostock-Lichtenhagen kein Einzelfall. So wie es in jenen 1990er-Jahren rassistische Angriffe auch in Hoyerswerda, Mölln oder Solingen gab, die teilweise Menschen das Leben kosteten, so wiederholten sie sich nach 2015 während der sogenannten Flüchtlingskrise. Vor allem in Sachsen verging wochenlang fast kein Tag, an dem nicht Unterkünfte mit Schutzsuchenden aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan attackiert wurden. Erneut war von der Polizei oft wenig zu sehen. Anders als Kohl, der 1992 in Bonn blieb, eilte Kanzlerin Angela Merkel zwar an einen der Tatorte, nach Heidenau. Dort wurde sie jedoch selbst attackiert.
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Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in der Flüchtlingsunterkunft in Heidenau am 26. August 2015.
© Quelle: imago/epd
Schließlich sitzt die AfD heute in allen Parlamenten. In Thüringen und Sachsen ist sie laut aktueller Umfragen stärkste Partei. In Thüringen war es auch, wo der rechtsextremistische Kopf der AfD, der Landesvorsitzende und Fraktionschef Björn Höcke, soeben vom Mitteldeutschen Rundfunk zu einem Sommerinterview gebeten wurde und ungehindert rassistische Thesen verbreiten durfte.
Wohl nicht zuletzt deshalb ist die Erinnerung an Rostock-Lichtenhagen bis heute so wach. Alle wissen: Es ist passiert, und es kann wieder passieren. Jederzeit.
Bittere Wahrheit
Die Linke läuft Gefahr, gemeinsame Sache mit den Rechten zu machen, denn beide wollen auf sogenannten Montagsdemos die Bundesregierung attackieren. Mich erinnert das an die schlimmsten Momente der Weimarer Republik, wo KPD und NSDAP gemeinsame Sache gemacht haben.
Reiner Haseloff
CDU-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt
Dass die enorm steigenden Energiepreise in Ostdeutschland noch einmal ganz andere politische Konsequenzen haben als in Westdeutschland, bestreitet niemand, der sich ein bisschen auskennt. Umfragen belegen es. Die Mehrheit der Ostdeutschen lehnt Sanktionen gegen Russland zumindest dann ab, wenn es für sie selbst negative Folgen hat – trotz des Angriffs auf die Ukraine. Das spüren die etablierten Parteien.
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Reiner Haseloff (r., CDU), Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, kommt in den Festsaal der Staatskanzlei.
© Quelle: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa
Während der Flüchtlingskrise fanden die Thesen der AfD vor allem in der CDU Anklang. Dort ist auch der kremlfreundliche sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer zu Hause. Jetzt sind es jedoch Linke, die zu Montagsdemonstrationen aufrufen und dabei einkalkulieren, dass sich bei diesen Demos in erster Linie Rechtsradikale tummeln. Da hat Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff, der eine AfD-nahe Gruppe in der eigenen Landtagsfraktion hat, ganz recht.
Wie das Ausland auf die Lage schaut
Zur Zeugenvernehmung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor dem Hamburger Untersuchungsausschuss zur Cum-ex-Steuergeldaffäre schreibt die „Irish Times“:
„Selbst wenn die Ermittlungen ohne belastende Erkenntnisse zu Olaf Scholz enden, was wahrscheinlich ist, wirft dies kein gutes Licht auf den Bundeskanzler. Die Deutschen haben hohe ethische Erwartungen an ihre Spitzenpolitiker, insbesondere nach der Ära Merkel, in der solche Vorwürfe noch undenkbar gewesen wären. Scholz gewann sein Amt im letzten Jahr mit einem Programm des ‚Respekts‘ für Geringverdiener und Beschäftigte in Schlüsselberufen. Dass der klamme Fiskus einer durch Steuerkorruption belasteten Bank die Zahlung von 47 Millionen Euro erlassen hat, ist schlimm genug. Die Vorstellung, dass Politiker einen derartigen Deal angeschoben haben, sorgt im günstigsten Fall für erhebliche Verwirrung. Sollte es jedoch weitere Enthüllungen geben, wäre dies ein schwerer Schlag für die Glaubwürdigkeit in einer unsicheren Zeit, in der Europa vom deutschen Kanzler Führungsstärke erwartet.“
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Kritischer Blick, aber keine unmittelbare Widerrede: Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Pressekonferenz mit dem Palästinenserpräsident Mahmud Abbas.
© Quelle: IMAGO/Fotostand
Die „Neue Zürcher Zeitung“ aus der Schweiz kommentiert die Reaktion von Bundeskanzler Olaf Scholz auf den Holocaustvergleich von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas:
„Er stand stumm daneben, als Mahmud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, im Berliner Kanzleramt Israel schmähte und den Holocaust relativierte. Alle Erklärungen im Nachgang vermögen am fatalen Eindruck dieses Schweigens nichts zu ändern: Bundeskanzler Scholz hat Deutschland blamiert. Seine Bekenntnisse zur besonderen Verantwortung des Landes für Israel entpuppen sich als bloße Lippenbekenntnisse.
Scholz hätte von seinem Hausrecht Gebrauch machen und das Wort ergreifen müssen. Stattdessen gab der Kanzler 15 Stunden später bei Twitter bekannt, er sei ‚zutiefst empört über die unsäglichen Aussagen des palästinensischen Präsidenten‘. Eine Empörung, die einen halben Tag braucht, um Worte zu finden, ist keine Empörung, sondern der Versuch, den selbst angerichteten Schaden irgendwie noch zu begrenzen. Was ist von einem Kanzler zu halten, der einem Antisemiten die Bühne bietet und sich auf dieser dann selbst wie ein Statist verhält?“
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