Linke vor der Spaltung: Welche Chancen hätte eine Wagenknecht-Partei?
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Das Verhältnis zwischen Sahra Wagenknecht und der Linken ist nicht mehr zu reparieren.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Liebe Leserin, lieber Leser,
am Montagmittag entstieg Gregor Gysi in der Berliner Wilhelmstraße einer Limousine, um sich schnellen Schrittes dem Jakob-Kaiser-Haus zu nähern, einem jener Gebäude also, in dem zahlreiche Bundestagsabgeordnete ihre Büros haben. „Wie geht‘s?“, fragte der Linken-Politiker lächelnd, um gleich darauf hinzuzufügen, dass es seiner Partei eher nicht so gut gehe.
„Am Donnerstag treffe ich mich wieder mit Sahra“, sagte Gysi noch. Gemeint war natürlich die einstige Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht. Dabei gehe es auch um die mögliche Gründung einer neuen Partei durch seine langjährige Widersacherin sowie darum, „ob wir beide unserer historischen Verantwortung gerecht werden wollen“. Dann verschwand Gysi in dem Gebäude.
Seine Worte zeigen an, wie ernst die Lage ist, zumindest für die Linke. Die Partei steht nun tatsächlich vor der Spaltung. Und wenig deutet daraufhin, dass irgendwer sie noch verhindern kann.
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Will noch einmal mit Sahra Wagenknecht sprechen – es dürfte auch um die mögliche Spaltung der Linken gehen: Gregor Gysi, hier in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude.
© Quelle: IMAGO/Future Image
Zwischen Wagenknecht, die Gysi 2015 gemeinsam mit Dietmar Bartsch an der Fraktionsspitze ablöste, und die Linke passt schon seit Jahren mehr als nur ein Blatt Papier. Ob Euro-, Flüchtlings-, Corona- oder Energiekrise – stets bezog die 53-Jährige eine andere Position als die Mehrheit der Gesamtpartei. Immer wieder rauften sich beide Seiten zusammen, wie ein zerstrittenes Ehepaar, das weiß: Miteinander geht es nicht, ohneeinander aber auch nicht.
Seit sich Wagenknecht angesichts des Krieges gegen die Ukraine relativ unverhohlen auf die Seite Russlands stellt, ist nichts mehr zu kitten. Wagenknecht will vielleicht nicht mehr. Ihre Kritiker wollen sicher nicht mehr. Nicht zuletzt Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, der es wie viele andere ausdauernd im Guten mit Wagenknecht versucht hatte, warf ihr am Montag in der „Süddeutschen Zeitung“ vor, „Unsinn“ zu verbreiten.
Verschärft wird die Lage noch dadurch, dass das der rechtsradikalen Szene zugerechnete Magazin „Compact“ Wagenknecht soeben auf den Titel nahm – versehen mit der Zeile: „Die beste Kanzlerin. Eine Kandidatin für Links und Rechts.“ Dies nährt den Eindruck, den viele in der Linken nicht erst seit gestern haben: dass die in Jena geborene Wahl-Saarländerin gar keine Linke mehr ist. Unter AfD-Funktionären hat sie jedenfalls mehr Fans als unter den eigenen.
Zwar ist die Gründung einer zweiten linken Partei, mit der zur Europawahl 2024 gerechnet wird, mit allerlei Risiken behaftet. Zunächst würde die Bundestagsfraktion kaputt gehen. Dann müsste ein Parteiapparat entstehen. Und schließlich müssten Wagenknecht, die zuallererst im Dagegen-Sein glänzt, und die neue Partei miteinander harmonieren. Das ist alles andere als selbstverständlich, zumal die Gallionsfigur Gremienarbeit ebenso scheut wie die Integration von Menschen mit anderen Meinungen. Nachdem die Noch-Linke vor ein paar Jahren die sogenannte Sammlungsbewegung „Aufstehen“ gegründet hatte, zeigten sich deshalb bald Risse. Auch wollten in der Gesellschaft nicht so viele Menschen aufstehen, wie Wagenknecht offenkundig dachte.
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Mittlerweile sogar auf dem Titel des der rechten Szene zugerechneten Magazins "Compact": Sahra Wagenknecht.
© Quelle: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/
Allerdings scheint es mittlerweile keinen Weg zurück mehr zu geben. Noch dazu scheinen die Erfolgsaussichten einer Wagenknecht-Partei im Prinzip sehr günstig zu sein.
Klaus-Peter Schöppner vom Meinungsforschungs-Institut „Mentefactum“ sieht derzeit „sehr viel Bewegung in der Parteienlandschaft; insofern ist da alles möglich“. Lediglich ein Drittel der Wahlbevölkerung sei noch zu den Stammwählern zu rechnen, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Im Übrigen hätten „noch nie so viele Dinge den Deutschen Kummer bereitet“ wie heute. „Wir sind an einem Kipppunkt angelangt“, glaubt Schöppner. „Da baut sich etwas Neues auf. Und das führt dazu, dass neue Parteien durchaus eine Chance haben könnten.“
Unter optimalen Voraussetzungen könnte eine neue linke Partei bundesweit 12 Prozent holen.
Klaus-Peter Schöppner vom Meinungsforschungsinstittut "Mentefactum"
„Unter optimalen Voraussetzungen könnte eine neue linke Partei bundesweit 12 Prozent holen“, sagt er – mit der Folge, dass die alte Linke zumindest im Westen vorübergehend am Ende sei. Freilich müssten dafür bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Die Wagenknecht-Partei dürfe nicht auf eine Person beschränkt bleiben, es müsse ein Team gebildet werden. Auch müssten ein Thema und ein inhaltliches Ziel her. Ferner müsse eine funktionierende Struktur zustande kommen. Und schließlich müsse die Unruhe in der Bevölkerung anhalten. Mit anderen Worten: Ein Selbstläufer würde auch eine Wagenknecht-Partei in diesen wilden Zeiten nicht.
Dem alten Recken Gysi, der Wagenknecht früher nie riechen konnte, könnte das alles egal sein. Seine politische Laufbahn dürfte spätestens mit der nächsten Bundestagswahl enden. Doch weil es ihm nicht egal ist, will es der 74-Jährige am Donnerstag noch einmal versuchen. Ausgang: ungewiss.
Bittere Wahrheit
Früher war ich ein Gegner von Waffenlieferungen. Heute sage ich ergänzend: Jeder, der angegriffen wird, hat das Recht, sich zu verteidigen.
Bodo Ramelow
linker Ministerpräsident von Thüringen in der „Süddeutschen Zeitung“
Bodo Ramelow macht, was viele heutzutage machen: Er macht sein eigenes Ding. Und das bedeutet: Er sagt, was er für richtig hält. Dies gilt auch für den russischen Krieg gegen die Ukraine.
Dass die Linke neben dem Konflikt mit Sahra Wagenknecht noch ein paar andere Probleme hat, zeigt die Reaktion des Parteivorsitzenden Martin Schirdewan. Er teile zwar Ramelows Auffassung, „dass der Druck auf Putin steigen muss“, sagte der Europaabgeordnete den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Doch Waffenlieferungen seien „nicht die Position der Partei, wir machen Alternativen zur militärischen Logik stark“. Welche das sind, wenn der Aggressor an Verhandlungen (noch) kein Interesse hat, blieb weitgehend offen. So dürfte Ramelow auch weiterhin anderer Ansicht sein.
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Verteidigt das Recht, sich zu verteidigen – auch mit Waffen: Bodo Ramelow.
© Quelle: Michael Reichel/dpa-Zentralbild/
Wie das Ausland auf die Lage schaut
Zur Rolle von Altkanzlerin Angela Merkel in der aktuellen deutschen Politik schreibt die italienische Zeitung „Corriere della Sera“ aus Mailand:
„Man hört den Lärm einer großen Stille in Deutschland, das Mühe hat, sich wiederzuerkennen, jetzt wo der Krieg in der Ukraine alte Sicherheiten zermalmt, die Inflation zurück ist, in der Hauptstadt Wahlen, die im totalen Chaos abliefen, für ungültig erklärt wurden, pünktliche Züge jetzt nur noch Verspätung haben und sich Minister gegenseitig in der Öffentlichkeit kritisieren, als wären wir in Rom. Aber vielleicht wäre es besser zu sagen, dass man die Atempause des ‚Großen Schlafes‘ von Angela Merkel spürt.
Die Altkanzlerin ist von der politischen Bühne verschwunden und zum versteinerten Tischgast einer kollektiven Selbstanalyse geworden, die auch sie direkt betrifft. Alle, die in den vergangenen 20 Jahren politische Verantwortung hatten, stellen sich wichtige Fragen und räumen fatale Fehler ein. Nur Angela Merkel schweigt oder fast – in dem Sinne, dass sie ihre Entscheidungen im Zusammenhang mit der Zeit, als sie getroffen wurden, in den zwei oder drei Malen, als sie etwas sagte, verteidigte. Angela Merkel setzt ihren ‚Großen Schlaf‘ fort. Vielleicht nimmt sie sich Zeit, so wie sie es immer tat. Aber auch dieses Mal würden Erklärungen Deutschland und der Weisheit für unaufschiebbare Entscheidungen jetzt zugutekommen.“
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Wird von der italienischen Zeitung "Corriere dela Serra" kritisiert: die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Zur Ausrichtung der deutschen Außen- und Handelspolitik gegenüber Asien meint die in Dublin erscheinende „Irish Times“:
„Nur zehn Tage nach seinem Besuch in Peking war Olaf Scholz vor den G20-Gesprächen auf Bali erneut in Asien auf einer Kurzreise durch Vietnam und Singapur. Seine Botschaft war klar: Deutschland ist bestrebt, seine asiatischen Handelsbeziehungen über China hinaus auszuweiten. Niemand erwähnte die Abhängigkeit Deutschlands von russischer Energie, aber das war auch nicht nötig. Während Russlands Einmarsch in der Ukraine alte Gewissheiten in der Berliner Außenpolitik zunichtemacht, zeichnet sich eine neue Strategie ab, wie man China als Handelspartner, Konkurrent und Systemrivalen zugleich begegnen kann.
In Berlin sind die Dinge in Bewegung geraten. Kurz nach seinem Amtsantritt beauftragte Scholz seine Beamten, alte Abhängigkeiten aus der Merkel-Ära zu identifizieren und zu verändern. Berlin hat die staatlichen Investitions- und Exportgarantien überarbeitet, um Unternehmen zu begünstigen, die ihr Engagement – und ihr Risiko – streuen, anstatt alles auf eine Karte zu setzen, nämlich auf China.“
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