Die Ukraine – immer unter dem Druck fremder Mächte
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Ende des vergangenen Jahres wurde in Odessa das Denkmal der deutschstämmigen russischen Zarin Katharina II. demontiert. Überall in der Ukraine werden jetzt Denkmale abgerissen, die an Herrscher Russlands oder der Sowjetunion erinnern.
© Quelle: Libkos/AP/dpa
Berlin. Serhii Plokhy kam 1957 im russischen Gorki, dem heutigen Nischni Nowgorod, als Sohn ukrainischer Eltern zur Welt. Seine Großmutter war Überlebende des Holodomor, jener grausamen Hungersnot, die Sowjetdiktator Josef Stalin 1932/33 über die Ukraine brachte, indem er Getreide und Vieh beschlagnahmen ließ, um Zentralrussland und Moskau zu versorgen.
„In der Sowjetzeit durfte über den Holodomor nicht gesprochen werden“, erläutert Plokhy im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Kinder hätten davon nichts gewusst, aber mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 kamen die Erinnerungen zurück, es sei aus den älteren Menschen herausgebrochen und ukrainische Wissenschaftler begannen mit der Aufarbeitung.
Serhii Plokhy ist einer von ihnen, ein Historiker, der seit 2007 als Professor für ukrainische Geschichte an der Harvard Universität in Cambridge lehrt und in den USA und in Kanada inzwischen als die führende Autorität für die Geschichte Osteuropas und der Ukraine gilt.
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Serhii Plokhy ist Professor für ukrainische Geschichte und Direktor des Ukrainischen Forschungsinstituts an der Harvard University.
© Quelle: Tania D'Avignon
„Insgesamt kostete die Hungersnot in der Ukraine fast vier Millionen Menschen das Leben – jede achte Person fiel zwischen 1932 und 1934 dem Hunger zum Opfer“, schreibt Plokhy in seinem Buch „Das Tor Europas“, das vom World Street Journal als „Das Standardwerk zur Ukraine“ gelobt wird.
Auf 550 Seiten umreißt der Autor die „Geschichte der Ukraine“ – so der Untertitel – von der Antike bis in die Gegenwart und zeichnet dabei das Bild eines am westlichen Rand der eurasischen Steppe gelegenen Landstrichs, der sich immer unter dem Einfluss und Druck fremder Imperien sah.
Viele hinterließen ihre Spuren
Angefangen von der Adelsrepublik Polen-Litauen, über das zaristische Russland, das Osmanische Reich, die Habsburger und schließlich bis hin zur Sowjetunion drückten fremde Mächte der bis zum Schwarzen Meer reichenden Region ihren Stempel auf.
„Jedes dieser Reiche beanspruchte Land und Beutegut, hinterließ seine Spuren in der Landschaft und im Charakter der Bevölkerung und trug dazu bei, ihre einzigartige ‚Grenzidentität‘ und ihr besonderes Ethos zu formen“, schreibt Plokhy.
Schon bald nach der Oktoberrevolution von 1917 übernahmen die Bolschewisten das Zepter und gliederten die Ukraine nach einer kurzen Phase der Unabhängigkeit mit brachialer Gewalt in den kommunistischen Vielvölkerstaat Sowjetunion ein.
Der Holodomor – von ukrainisch „holod“ = Hunger und „moryty“ = Vernichtung – wurde von Stalin genutzt, um die „oft unabhängig gesinnte Republik in eine bloße Provinz der Sowjetunion“ umzuwandeln, so Plokhy. Er hält es für sehr wichtig, dass das deutsche Parlament, der Bundestag, Ende November in einer Resolution den Holodomor als Völkermord eingeordnet hat.
„Zwar traf die Hungersnot auch den Nordkaukasus, die untere Wolgaregion und Kasachstan, doch einzig in der Ukraine war sie auf eindeutig ethnonational gefärbte Maßnahmen zurückzuführen“, schreibt Plokhy und fügt im Gespräch hinzu, die deutsche Entscheidung werde eine Signalwirkung in Europa haben.
Die Erklärung der Unabhängigkeit 1991 sei ein sehr wichtiges Datum in der langen leidvollen Geschichte der Ukraine gewesen, weil damit nach über 70 Jahren Sowjetunion erstmals etwas Neues entstehen konnte, betont Plokhy.
In seinem Buch unternimmt er sehr sachkundig den Versuch, die Ukraine „unter den Trümmern der imperialen Unterdrückung und deren entstellender Darstellung“ hervorzuholen und den Blick des Lesers für die „demokratische und europäische Ausrichtung der ukrainischen Gesellschaft“ zu weiten.
Russland habe als Hauptprofiteur der Sowjetunion schon kurze Zeit nach der ukrainischen Unabhängigkeit damit begonnen, die Idee populär zu machen, dass die Ukrainer in Wirklichkeit Russen seien und dass die Ukraine kein Recht habe als Staat zu existieren, sondern weiter zu Russland gehören müsse.
Alle wollten ihre Unabhängigkeit
Für Russland war klar, dass jeder künftige Versuch einer Rückgewinnung der Kontrolle über die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion ohne die Ukraine nicht möglich sein würde, sagt Plokhy.
„Zur großen Überraschung der meisten Beobachter im Westen wollten plötzlich mit dem Ende der Sowjetunion alle ihre Unabhängigkeit“, erläutert der Historiker – nicht nur die Ukraine, sondern auch Kasachstan, Usbekistan und nicht zuletzt die baltischen Länder.
Die Ukraine schlug nach 1991 mit vielen Rückschlägen den Weg in Richtung freie Wahlen und Demokratie ein, bis Russland 2014 die Krim besetzte und in den ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk Abspaltungen anzettelte, indem es willige Separatisten, militärisch, logistisch, wirtschaftlich und personell unterstützte.
Die Tatsache, dass auch im Westen die Ukraine sehr lange noch als „irgendwie zu Russland gehörend“ betrachtet wurde, erklärt Plokhy mit der auch unter westlichen Akademikern relativ weit verbreiteten Art einer sehr „traditionellen Sichtweise auf die Weltkarte“.
Ein Land mit regionaler und sprachlicher Vielfalt
Zudem sei die Geschichte der Ukraine keineswegs einfach, sondern eher sehr kompliziert. Es gibt verschiedene Kulturen und viele Verbindungen mit der polnischen, russischen, österreichischen und jüdischen Geschichte, auch sei die Ukraine ein Land mit regionaler und sprachlicher Vielfalt.
Zwar spreche eine Mehrheit der Bevölkerung ukrainisch, aber eine signifikante Zahl der Menschen spreche auch russisch, sagt Plokhy. Die Nation der Ukrainer sei verbunden mit der Sprache, aber nicht definiert über die Sprache, meint der Historiker, der die verschiedenen Kulturen ebenso herausarbeitet wie das religiöse Leben an der Schnittstelle zwischen katholischer und orthodoxer Welt.
Plokhys Buch, bereits 2015 auf Englisch und 2022 in einer aktualisierten Fassung auf Deutsch herausgekommen, ist auch eine Aufforderung an die deutschen Leser, mit einem neuen Blick auf den Zweiten Weltkrieg zu schauen.
Schon in der Vergangenheit hatten ukrainische Offizielle, wie etwa der ehemalige Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, beklagt, dass das öffentliche deutsche Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs, etwa bei Jahrestagen, einseitig auf Russland fixiert war, quasi als Rechtsnachfolger der Sowjetunion.
Eines der Hauptziele deutschen Expansionsstrebens
Plokhy schreibt, dass die Ukraine während des Weltkrieges mit ihrem Ruf als „Kornkammer Europas“ und mit dem höchsten Bevölkerungsanteil an Juden auf dem Kontinent ein Hauptziel deutschen Expansionsstrebens und ein Hauptopfer der Nationalsozialisten war.
„Zwischen 1939 und 1944 verlor das Land fast sieben Millionen Einwohner – davon fast eine Million Juden – und damit 16 Prozent seiner Vorkriegsbevölkerung“, schreibt Plokhy und ordnet ein: „Nur Belarus und Polen (...) erlitten proportional höhere Verluste.“
Jeder sechste Jude, der im Holocaust starb, kam aus der Ukraine. Das bekannteste Massaker fand in Babyn Jar („Altweiberschlucht“) am Stadtrand von Kiew statt, wo die Deutschen am 29. und 30 September 1941 über 33 .000 Menschen auf brutalste Weise erschossen und danach verscharrten.
Von Januar 1942 an beuteten die Nationalsozialisten die Ukraine nicht mehr nur als Quelle landwirtschaftlicher Produkte aus, sondern auch als Reservoir von Zwangsarbeitern, ist bei Plokhy nachzulesen. „Insgesamt wurden in den Jahren 1942 und 1943 fast 2,2 Millionen Ukrainer festgenommen und nach Deutschland deportiert.“
Vom KZ in den Gulag
Wer Unterernährung, Krankheiten und Luftangriffe der Alliierten in Deutschland überlebte, wurde nach Rückkehr in die Sowjetunion oft als Verräter behandelt weil er nicht bereit gewesen war, einfach für Stalin zu sterben.
„Einige wurden direkt aus deutschen Konzentrationslagern in sowjetische Gulags deportiert“, schreibt Plokhy.
Der Historiker räumt ein, dass die Ukraine nicht der einzige Teil der UdSSR war, in dem die Deutschen auf Sklavenjagd gingen, aber sie war „bei Weitem der größte Jagdgrund“. Bewohner der Ukraine stellten fast 80 Prozent aller sogenannten Ostarbeiter, die im Krieg nach Deutschland verschleppt wurden.
Dass die großen Opfer der Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Westen gedanklich zumeist Russland zugeordnet wurden, sei ein großer Fehler gewesen, sagt Plokhy und nennt dies einen „Teil unserer jüngeren Geschichte, der jetzt neu überdacht wird“.
In seinem für die deutsche Ausgabe geschriebenen Vorwort geht der Historiker auf den russischen Überfall der Ukraine am 24. Februar ein und zieht Parallelen zum Verhalten Nazideutschlands. „Das Bestreben des Putin-Regimes, Gebiete mit beträchtlicher russischer oder russischsprachiger Bevölkerung zu annektieren, um sie in die ‚russische Welt‘ zu zwingen, erinnert fatal an den Traum der Nazis von einem Großdeutschland und ihren Methoden“, so Plokhy.
Wiederkehr imperialer Kriege
Der Angriff auf die Ukraine als Ganzes mute wie die Wiederkehr der imperialen Kriege der Vergangenheit an. Es sei eine große Ironie der Geschichte, dass Putins Krieg das genaue Gegenteil von dem bewirke, was der Kremlherrscher bezweckt habe, meint der Ukraine-Experte.
Es sei nicht etwa zu einer nostalgischen Rückbesinnung auf sowjetische Zeiten gekommen, sondern der Krieg habe zum „Biggest Boost“, zum „größten Schub“ für die ukrainische Identität geführt, den man sich überhaupt denken konnte.
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"Die Geschichte der Ukraine" hat 556 Seiten und kostet 30 Euro.
© Quelle: Hoffmann und Campe
Die Russen haben den Transformationsprozess, den die Ukraine von der rechtswidrigen Krim-Annexion 2014 bis zum Überfall 2022 durchgemacht hat, völlig unterschätzt, sagt Plokhy. Im Vorwort schreibt er dazu von einem „exemplarischen Kampf“, der ausgefochten wird.
Auf der einen Seiten die Länder, die für eine auf demokratische Regeln basierende Ordnung mit ihren Grundprinzipien der Souveränität und territorialen Integrität einträten und auf der anderen Seite die antidemokratischen Kräfte, die diese Ordnung zerstören wollen.
Die Widerstandskraft, mit der die Ukrainer der russischen Aggression begegnen, erkläre sich letztlich aus der Geschichte der unabhängigen Ukraine, ist der Autor überzeugt. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine sei auch ein Weckruf, über das Ende des Zeitalters der Imperien nachzudenken. Plokhy: „Aus Sicht der Ukraine ist es ein klassischer Befreiungskrieg.“