“Die FDP ist zu rechts”: Der Altliberale Baum schlägt Alarm
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Die FDP werde oft als Gegner der zeitgeistigen Politik wahrgenommen, klagt Gerhart Baum. In der Causa Kemmerich wirft Baum dem heutigen FDP-Chef Christian Lindner einen schweren Führungsfehler vor. Die Orientierungslosigkeit seiner Partei beunruhige ihn.
© Quelle: imago images/Christian Spicker/Klaus Martin Höfer/Rainer Unkel/RND Montage Behrens
Gerhart Baum, 87, ist ein Phänomen. Wer ihn in diesen Tagen in seiner Altbauwohnung in der Kölner Südstadt anruft, muss sich mitunter ein bisschen gedulden und es später noch einmal probieren.
“Entschuldigen Sie bitte”, sagt Baum, “aber hier ist gerade zu viel los.”
Gerade war er in einer Videokonferenz. Seit Beginn der Corona-Krise kämpft er um staatliche Rettungsschirme für Kulturschaffende, als Vorsitzender des Kulturrats NRW, dem 80 Verbände angehören.
Ein Liberaler, der sich für staatliche Hilfen einsetzt? Baum ist da ganz pragmatisch. Er weiß, dass man Leuten in einer Krisensituation nicht mit der Parole “Privat statt Staat” kommen kann, einem FDP-Slogan aus den Neunzigern.
China, Seehofer, Satire: Freiheit ist Baums Lebensthema
Baum hängt sich rein, mischt mit, regt sich auf. Erst für den späten Nachmittag hat er etwas Entspannung eingeplant, beim Spaziergang mit seiner Frau.
Noch immer arbeitet Baum in zahlreichen Gremien mit, auch auf globaler Ebene, in Menschenrechtsgruppen zum Beispiel. Derzeit bedrückt ihn die Lage in China, dessen Regime nun auch die Freiheitsbewegung in Hongkong unterdrückt.
Die USA unter Donald Trump sieht Baum menschenrechtspolitisch als Totalausfall: “Deshalb ist der von Angela Merkel geplante China-Gipfel notwendig.”
Die Kanzlerin hatte wegen der Corona-Krise eine große Runde aller EU-Staaten mit China zunächst verschoben. FDP-Chef Christian Lindner indessen fordert neuerdings, den Gipfel wegen Hongkong komplett abzusagen.
Das wiederum findet Baum völlig verkehrt: Gerade jetzt müsse man mit China reden, um Einfluss auszuüben zugunsten der Menschenrechte.
Freiheit war und bleibt Baums Lebensthema, auch in innenpolitischen Debatten. Dass Horst Seehofer per “Bild” eine Strafanzeige gegen eine “taz”-Kolumnistin ankündigte, die er “als Bundesinnenminister” erstatten werde, machte Baum fassungslos. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass einer seiner Nachfolger im Amt des Bundesinnenministers eines Tages auch nur erwägen würde, wegen einer Zeitungskolumne eine Strafanzeige zu erstatten.
Als andere noch über Seehofer stöhnten, war Baum längst ein paar Umdrehungen weiter und warnte vor einer “generellen Tendenz” unter regierenden Politikern in Deutschland, den Medien Grenzen setzen zu wollen: “Schon die Intervention des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet gegen die Omasatire beim WDR war in dieser Hinsicht kein gutes Beispiel.”
Die FDP erlebt einen Bernie-Sanders-Effekt
Ups, da hatte der 87-Jährige es schon wieder getan. Er hatte wieder mal mehr liberales Sensorium bewiesen als viele andere in seiner Partei.
Auf Twitter brachte das erneut Beifall für den alten Mann, vor allem von jungen Leuten. Von einem Bernie-Sanders-Effekt sprechen manche: Wie bei den US-Demokraten sorge ein Grauhaariger für neuen Schwung.
“Leider sind die Zeiten eines Gerhart Baum schon lange her”, seufzte ein Nutzer. “Damals war die FDP noch liberal”, merkte ein anderer an. Eine Ratsherrin aus Kornwestheim bei Stuttgart steigerte sich zu dem Satz “Menschen wie Baum sind so kostbar wie sauberes, kühles, heilendes Quellwasser”.
Ein Bild aus sozialliberaler Zeit: Gerhart Baum, damals Bundesinnenminister, an der Seite von Bundeskanzler Helmut Schmidt.
© Quelle: imago
Baum selbst sieht sich gar nicht als Helden – sondern einfach nur als einen, der das Grundgesetz verstanden hat.
Als Jurastudent, in den Fünfzigerjahren, hat Baum das 1949 verabschiedete Grundgesetz nicht nur studiert – er hat es verinnerlicht, sich zu eigen gemacht, es gleichsam inhaliert.
Heutige Jurastudenten können sich eine emotionale Wirkung der Artikel und Absätze des Grundgesetzes kaum noch vorstellen. Damals aber markierten diese Texte den Übergang in ein Leben in Würde. Eine erstmals trittsichere neue Welt tat sich auf für einen jungen Mann, der wenige Jahre zuvor nach den Luftangriffen auf Dresden in Todesangst mit seiner Mutter aus einem brennenden Keller gekrochen war.
Fall Kemmerich: “Die sind wohl nicht ganz bei Trost”
Das Grundgesetz, erzählt Baum, gab ihm immer Kraft. Schon in den Sechzigerjahren war das so, in seinem ersten großen Kampf “gegen die Altnazis, die ja damals noch überall saßen und die neue Ordnung nicht anerkennen wollten”.
Heute, das ist Baums bedrückender Befund im hohen Alter, müsse in Deutschland leider ein weiterer Kampf geführt werden. “Rechtsextremistisches Denken ist in unsere Gesellschaft noch nie so stark eingesickert wie jetzt.”
Ihn alarmieren nicht nur die offen zutage tretenden Hassverbrechen, vom rassistischen oder antisemitischen Übergriff bis zum Mord an dem Christdemokraten Walter Lübcke. Genauso schlimm sei “die leise Systemverachtung in Teilen des Bürgertums”.
Ist das alles eine Folge der Flüchtlingskrise? Unsinn, sagt Baum. Schon lange vorher hätten die AfD-Gründungsväter Bernd Lucke und Alexander Gauland gegen das System in Deutschland Stimmung gemacht. Mit Hans-Olaf Henkel habe dann leider auch ein ehemaliges Mitglied der FDP in den Chor eingestimmt.
Baum will, auch das ist für ihn ein Lebensthema, eine klare Kante nach rechts außen. Deshalb hat ihn in diesem Jahr das Experiment der Thüringer Liberalen, die im Februar ihren Landesvorsitzenden Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten hatten wählen lassen, aufgebracht wie wenige andere.
Der FDP-Bundesvorsitzende Lindner hätte Kemmerich unbedingt daran hindern müssen, sagt Baum. Stattdessen habe es anfangs zustimmende Reaktionen von Lindner und aus dem Parteipräsidium gegeben: “Das war ein schwerer Führungsfehler.”
Der FDP-Mann Wolfgang Kubicki, immerhin Bundestagsvizepräsident und derzeit der ranghöchste Liberale im Staat, sprach anfangs sogar von einem “großen Erfolg” Kemmerichs.
In Wahrheit sei es aber ein schwarzer Tag gewesen, schimpft Baum, nicht nur für die FDP, sondern für die Demokratie in Deutschland. Dies hatte er seinerzeit auch sofort so eingeschätzt – und über seine Parteifreunde in Thüringen gesagt, sie seien wohl “nicht ganz bei Trost”.
Jamaika, Klima, Konjunktur: “Die FDP sagt immer Nein”
Ohne Kompass, sagt Baum, sei die FDP allzu oft unterwegs gewesen in letzter Zeit. Zwar habe Lindner im Jahr 2017 die Liberalen immerhin wieder in den Bundestag zurückgeführt, doch seither seien die Wähler immer wieder enttäuscht worden.
Schon die Absage an die Jamaika-Koalition sei eine Fehlentscheidung gewesen. Dies habe weder dem Staat noch der Partei geholfen. Stattdessen seien “Zweifel am Verantwortungsbewusstsein der Liberalen in diesem Land” entstanden.
Allzu oft, klagt Baum, werde die FDP seither wahrgenommen “als eine Partei, die immer dagegen ist: gegen das Klimapaket, gegen das wichtige Konjunkturprogramm und jetzt auch gegen die wegweisende Merkel-Macron-Initiative zur Stärkung Europas”. Bei Abstimmungen im Bundestag über Solidarität in der EU verhielten sich die Liberalen inzwischen “genau wie jene Ja-aber-Europäer, die Hans-Dietrich Genscher immer kritisiert hat”.
Den 87-Jährigen treibt nicht nur diese oder jene Einzelheit um. Es geht ihm um die generelle soziokulturelle Akzeptanz der Liberalen. Der Markt brauche ethisch definierte Grenzen, Gier und Betrug hätten überhandgenommen, zuletzt im Fall Wirecard. Wer als Liberaler nur über Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit rede, überlasse große liberale Milieus in den Großstädten vollends den Grünen. Kurzum: “Die FDP ist viel zu weit nach rechts gerückt.”
Kritik trifft Lindner in einem empfindlichen Moment
In der Führung der Partei könnte man dies alles als die bloße Grantelei eines alten Mannes aus Köln abtun. Doch die Kritik Baums trifft Lindner in einem empfindlichen Moment: Bei der Bundestagswahl 2017 kam die FDP noch auf 10,7 Prozent der Stimmen, in aktuellen Umfragen wird sie bei nur noch 5 Prozent gesehen.
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© Quelle: RND-Grafik, Quelle: Infratest dimap
Deshalb hören viele neuerdings genauer hin – auch wenn Baum eine Idee ins Spiel bringt, die noch vor Kurzem als alter Hut und als ganz und gar unzeitgemäß abgetan worden wäre: eine sozialliberale Perspektive, nicht als Koalitionsaussage, sondern als politisches Ziel.
“Wir brauchen einen neuen liberalen Aufbruch”, sagt Baum. Da sind nach seiner Meinung auch jene gefragt, die sich bislang zurückhielten, Leute wie Konstantin Kuhle etwa, Innenexperte aus Niedersachsen, und Johannes Vogel, Sozialexperte aus NRW. “Eine offene Diskussion über den Kurs muss stattfinden”, sagt Baum. “Ein Weiter-so wäre verhängnisvoll.”
Digitalisierung first, Bedenken second? So lautete eine groß plakatierte Lindner-Parole. Baum atmet durch, er will sie nicht gleich zerpflücken. “Die Digitalisierung hat eine Nachtseite”, sagt er dann. Nie sei die Gefahr für die Würde des einzelnen Menschen so groß gewesen wie heute. Nie habe es auch eine so große Manipulierbarkeit ganzer Gesellschaften gegeben. “Wer Freiheit will”, doziert Baum, “muss sie heute nicht mehr nur gegen staatliche Allmachtsfantasien verteidigen, sondern auch gegen übergriffige Konzerne.” Ein wahrer Liberaler ist aus seiner Sicht nur der, der Freiheit und Würde des Einzelnen gegen wirklich jeden verteidigt, der sie bedroht.
Da ist der alte Mann ganz altmodisch – und setzt doch zugleich eine neue Idee in die Welt.