Die Corona-Chroniken: Wie Söder und Laschet punkten
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Die Corona-Chroniken.
© Quelle: RND
Auf den ersten Blick war alles Routine. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet hat heute im Düsseldorfer Landtag eine gute Rede zur Lage in der Krise gehalten: unaufgeregt, aber engagiert. Nichts für die Tagesschau am Abend. Aber mit einer warmen, einigenden Wirkung auf die innere Befindlichkeit im größten deutschen Bundesland.
Am meisten Beifall bekam Laschet, als er heute über andere sprach, die Beifall klatschen. Er finde es gut, sagte er, dass es sich in vielen Städten an Rhein und Ruhr eingebürgert habe, um 21 Uhr aus Fenstern und von Balkonen all jenen zu applaudieren, die sich in diesen Tagen für die Gemeinschaft engagieren: Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger, Sanitäter, Polizisten und vielen anderen. Da applaudierten Abgeordnete aller Parteien, sogar im Stehen.
Hier der Einzelkämpfer, dort der große Integrator
In diesen Tagen das mit 18 Millionen Einwohnen größte deutsche Bundesland emotional ein Stück zusammenrücken zu lassen, ist keine Kleinigkeit. Laschet weiß: Alles, was er jetzt tut, ist auch bundespolitisch von Bedeutung.
Die Corona-Krise hat den Machtkampf um die Kanzlerkandidatur der Union im Bundestagswahljahr 2021 auf ein Duell reduziert: Entweder macht es Laschet oder sein bayerischer Amtskollege, CSU-Chef Markus Söder.
Beide sammeln Punkte in diesen Tagen, jeder auf seine Art. Söder beeindruckte bundesweit das Publikum, als er bereits am Freitag voriger Woche strenge Ausgangsbeschränkungen verkündete und nicht erst das Wochenende abwartete. Laschet wiederum beeindruckte seine MP-Kollegen aus anderen Ländern, indem er abwartete und einen bundesweiten Konsens suchte.
Laschet ist langsamer, aber er nimmt viele mit
Söder tat das virologisch Richtige, Laschet das politisch Richtige. Der eine geht als Einzelkämpfer in Stellung, der andere als großer Integrator. Laschet ist schon oft unterschätzt worden, der Mann ist erkennbar auf der Langstrecke unterwegs. Dass er sich derzeit ein bisschen langsamer bewegt, lässt ihn weniger dynamisch erscheinen. Aber er nimmt viele mit.
Söder indessen setzt jetzt sehr viele Signale in schnellem Takt, möglichst immer als Erster. Ab 1. April, twitterte Söder heute Nachmittag, übernimmt Bayern die Kosten für Essen und Getränke für alle Mitarbeiter in Kliniken, Alten- und Pflegeeinrichtungen für die Dauer der Corona-Krise. Erneut läutet die Glocke zuerst in München. Welche Strategie am Ende zum Erfolg führt, bleibt offen. Fest steht nur: Der Föderalismus lebt. Er sorgt nicht nur für checks and balances, sondern liefert auch immer wieder neue Impulse für alle.
“Wir erleben jetzt ein schnelles Vorspulen historischer Prozesse."
Yuval Noah Harari, israelischer Historiker, Philosoph und Buchautor (“21 Lektionen für das 21. Jahrhundert”)
Was Mut macht: Die europäische Solidarität, von vielen voreilig totgesagt, zeigt erfreuliche Lebenszeichen. In NRW, in Sachsen und in Bayern wurden inzwischen Patienten aus Italien in Kliniken aufgenommen, nach Baden-Württemberg flogen Rettungshubschrauber aus Frankreich. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer erklärte, das Klinikpersonal sei noch nicht überlastet, sondern könne jetzt die Gelegenheit nutzen, “wichtige Erfahrungen im Umgang mit dem Virus zu sammeln". Von einer Ausländer-raus-Debatte hat man bisher an keinem der betroffenen Klinikstandorte etwas gehört. Menschenfeindlichkeit, die sich am Pass festmacht, scheint zumindest gerade mal Pause zu haben.
Was Sorgen macht: Die USA werden nach und nach zum neuen Zentrum der Corona-Krise. Inzwischen sterben dort mehr als 100 Menschen am Tag. Wirtschaftswissenschaftler erwarten für die nächsten Tage den stärksten Anstieg von Arbeitslosigkeit in der amerikanischen Geschichte. Würde das Land einigermaßen zusammenrücken, wären alle Prognosen besser. Doch wegen der tiefen Spaltung der politischen Szenerie fürchten viele Beobachter Handlungsunfähigkeit und Chaos.
Ein dummer Gedanke: US-Präsident Donald Trump relativierte in der Nacht zum Dienstag die Gefahren der Pandemie, indem er ihre Auswirkungen allen Ernstes mit den Risiken des Autofahrens verglich: “Sehen Sie sich die Zahlen von Autounfällen an. Die haben doch auch nicht dazu geführt, dass wir den Leuten sagen: Ihr dürft keine Autos mehr fahren.” Amerikanische Virologen sind entsetzt: Sie hätten sich gewünscht, dass der Präsident in der Zeit eines extrem steilen Anstiegs der Infektionszahlen die Gefahren des Virus betont statt sie zu relativieren.
Ein kluger Gedanke: Yuval Noah Harari, israelischer Historiker, Philosoph und Buchautor (“21 Lektionen für das 21. Jahrhundert”), hat Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft zu größter Achtsamkeit und Umsicht ermahnt. Zum Wesen einer Krise gehöre es, dass viele kurzfristig getroffene Entscheidungen sich als Weichenstellungen erwiesen, hinter die später niemand mehr zurückfinde. Derzeit sieht Harari die Staatenwelt an zwei wichtigen Wegscheiden gleichzeitig: Entscheiden sie sich im Inneren für mehr Transparenz und Mitverantwortung der Bürger – oder soll der Weg in den High-Tech-Überwachungsstaat angetreten werden? Die zweite große Frage stelle sich in der Außenpolitik: Liegt die Zukunft in nationalistischer Isolierung oder in wachsender globaler Solidarität? Harari sieht viele neue Chancen, etwa auf dem Feld medizinischer Zusammenarbeit. Das durch die Krise erhöhte Entscheidungstempo steigere aber auch das Risiko eines heillosen Zerfalls der Staatenwelt: “Wir erleben jetzt ein schnelles Vorspulen historischer Prozesse.”