Interview mit Diakonie-Präsident Ulrich Lilie

„Die Pflegeversicherung steht vor dem Kollaps“

Aufarbeitung ist wichtig: Diakonie-Präsident Ulrich Lilie will das Geschehene systematisch auswerten.

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie.

Berlin. Ulrich Lilie ist seit 2014 Präsident der Diakonie Deutschland. Die evangelische Wohlfahrtsorganisation betreibt etwa 33.000 stationäre und ambulante Dienste wie Krankenhäuser, Altenpflegeheime, Sozialstationen, Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Angebote für Suchtkranke und Obdachlose oder Beratungsstellen. Die Organisation hat rund 600.000 Mitarbeiter.

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Herr Lilie, die Diakonie ist einer der größten Betreiber von Pflegeeinrichtungen. Teilen Sie die Kritik an der im Infektionsschutzgesetz verankerten Regel, wonach Heimbewohnerinnen und -bewohner überall in den Einrichtungen Maske tragen müssen?

Das ist eine geradezu obszöne politische Entscheidung. Diese Menschen leben dort mit sehr hohen Impfquoten und Schutzstandards, das Pflegeheim ist ihre Wohnung. Mir wäre nicht bekannt, dass anderen Bevölkerungsgruppen vorgeschrieben wird, in ihren Wohnungen eine Maske zu tragen.

Aber es steht nun im Gesetz. Werden Sie diese Vorschrift in Ihren Einrichtungen umsetzen?

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Selbstverständlich werden alle Einrichtungen bei aktivem Infektionsgeschehen die erforderlichen Hygienemaßnahmen anwenden, wie es der Gesetzgeber vorschreibt. Wir hoffen, dass die Länder pragmatische Lösungen im Hinblick auf die Maskenpflicht finden werden, wie es schon in einigen Bundesländern der Fall ist.

Bleiben wir bei der Pflege. Zum Jahresbeginn drohen nicht nur in der Kranken-, sondern auch in der Pflegeversicherung steigende Beiträge. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wartet aber offenbar ab. Wie ist die Lage aus Ihrer Sicht?

Die Pflegeversicherung steht vor dem Kollaps. Sie muss derzeit mit Darlehen über Wasser gehalten werden. Gleichzeitig haben die Eigenanteile der Heimbewohner in einigen Bundesländern bereits fast 2600 Euro erreicht. Weitere massive Sprünge werden folgen, denn die seit September geltende bundesweite Bezahlung der Pflegekräfte nach Tarif schlägt voll auf die Eigenanteile durch. Dann sind bald auch 4000 Euro nicht mehr ausgeschlossen.

Allerdings springt bei Überlastung die Sozialhilfe ein.

Richtig. Bereits jetzt ist eine wachsende Zahl von Heimbewohnern auf Sozialhilfe angewiesen. Doch um genau das zu verhindern, war 1995 die Pflegeversicherung eigentlich eingeführt worden. Es kann doch nicht sein, dass Leute, die ihr Leben lang gearbeitet haben und kleine Renten haben, nun gesagt bekommen: Du kriegst jetzt ein Taschengeld und das war’s dann für dich.

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Bereits jetzt ist eine wachsende Zahl von Heimbewohnern auf Sozialhilfe angewiesen. Doch um genau das zu verhindern, war 1995 die Pflegeversicherung eigentlich eingeführt worden.

Zum Jahresanfang war eine Entlastung bei den Eigenanteilen in Kraft getreten. Wirkt das nicht?

Das bekämpft kurzfristig die Symptome, ändert aber am grundsätzlichen Problem explodierender Kosten nichts. Es muss endlich Schluss sein mit diesem Stückwerk. Die Ampelkoalition und insbesondere der Gesundheitsminister werden daran gemessen, ob sie einen substanziellen Beitrag für ein funktionierendes Gesundheitssystem in einer Gesellschaft des langen Lebens leisten. Es wäre katastrophal, wenn Gesundheitsminister Lauterbach nichts zur Reform der Pflege unternimmt.

Was schlagen Sie vor?

Das bisherige System der Pflegeversicherung basiert in der häuslichen Pflege, in der 70 Prozent der zu Pflegenden versorgt werden, darauf, dass Familienangehörige – und hier sprechen wir insbesondere von den Frauen – einen Großteil der Pflegeleistungen zu Hause erbringen. Doch dieses Familienmodell funktioniert angesichts gesunkener Geburtenraten, einer größeren beruflichen Mobilität und neuer Rollenbilder nicht mehr. Da müssen wir uns ehrlich machen. Deshalb müssen wir auch hier einen neuen Ansatz finden.

Wird der Omikron-Impfstoff gegen BA.1 zum Ladenhüter?

BA.1 oder BA.5: Welcher Omikron-Impfstoff ist der richtige? Vor dieser Frage stehen aktuell nicht nur Impfwillige, sondern auch Ärztinnen und Ärzte. Bislang fällt die Wahl mehrheitlich auf das BA.5-Vakzin – zum Nachteil der BA.1-Impfdosen, denen nun im schlimmsten Fall die Vernichtung droht.

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Wie muss der Ihrer Meinung nach aussehen?

Wir schlagen eine Vollversicherung mit begrenzten Eigenanteilen vor. Dazu wird festgelegt, welche Leistungen bei einem bestimmten Pflegegrad notwendig sind. Diese werden von der Pflegeversicherung komplett übernommen, sowohl im Heim wie bei der Pflege zu Hause. Es verbleibt dann noch ein dauerhaft festgelegter Eigenanteil. Weil der Betrag damit anders als heute kalkulierbar ist, weiß jeder genau, in welcher Höhe er privat vorsorgen muss. Die Höhe dieses Eigenanteils muss politisch festgelegt werden.

Aber ohne die Hilfe der Angehörigen wird man nicht auskommen.

Ja, nach unserem Konzept sollen Angehörigen oder auch 24-Stunden-Betreuungskräfte ein regelrechtes Anstellungsverhältnis erhalten, damit sie sozial abgesichert sind. Es kann nicht richtig sein, dass die Pflegeversicherung nur deshalb noch funktioniert, weil pflegende Frauen herbe Einkommens- und Rentenverluste hinnehmen müssen, wodurch sie später in Altersarmut abrutschen.

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Die Beiträge werden steigen müssen, keine Frage. Aber das kann begrenzt werden, wenn bei den Beiträgen auch andere Einkommensarten wie Kapital- oder Mieterträge einbezogen werden. Außerdem sind Steuermittel nötig, etwa für Löhne und Rentenbeiträge der pflegenden Angehörigen.

Auch wenn im Koalitionsvertrag ein Prüfauftrag für eine Vollversicherung in der Pflege steht, dürfte das alles in der Ampel schwer durchsetzbar sein. Oder sehen Sie Chancen?

Wir sprechen bei der Pflege von der drängendsten Herausforderung, die unsere Gesellschaft des langen Lebens vor sich hat. Die Zeit des Durchwurschtelns ist vorbei, ansonsten fährt das System an die Wand. Wir brauchen jetzt einen großen Wurf. Dazu sind Politiker nötig, die sich dem mühevollen Geschäft des Interessenausgleichs zwischen großen Interessengruppen stellen. Das macht man nicht in Talkshows, sondern indem man arbeitet.

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