Deutsche Einheit: So viel Osten steckt im Westen
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Rund eine Million Menschen feiern am 3. Oktober 1990 die wiedergewonnene deutsche Einheit - hier mit einem Transparent "West und Ost - Zukunft für Deutschland und Europa" vor dem Brandenburger Tor.
© Quelle: dpa
Berlin. Das Lamento war in den Neunzigerjahren allgegenwärtig. Von Ostdeutschland sei im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung kaum mehr übrig geblieben als das Sandmännchen (Ost) und der grüne Pfeil, also die Erlaubnis, bei einer auf Rot stehenden Ampel rechts abbiegen zu dürfen.
Gut, irgendwann rutschte noch Angela Merkel auf die Liste – wobei sie, auch das wurde gelegentlich vermerkt, im westdeutschen Hamburg zur Welt gekommen ist.
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Immer noch im Fernsehen zu sehen: Das Sandmännchen mit seinen Freunden Pittiplatsch (r) und Schnatterinchen.
© Quelle: Soeren Stache/dpa
20 Jahre später stellt sich die Sache anders dar. Wenn gefragt wird, was die DDR nicht nur überdauert, sondern sogar den Westen und damit Gesamtdeutschland geprägt hat, dann werden mehr denn je ein paar Dinge positiv benannt. Dies bedeutet auch, dass sie positiv benannt werden können, ohne dass das noch in den Geruch der Verherrlichung der SED-Diktatur geraten würde.
17 Jahre lang gingen mehr Frauen als Männer in den Westen
Zunächst einmal sind es Menschen, die den Westen und damit das Ganze geprägt haben: nämlich jene rund 3,7 Millionen Ostdeutsche, die zwischen 1991 bis 2017 dorthin übersiedelten. Dabei waren es “die Guten”, die kamen. So gingen 17 Jahre lang mehr Frauen als Männer in den Westen.
Es waren oft junge, prima ausgebildete und aufstiegsorientierte Frauen, die sich auf den Weg machten – und Ostdeutschland bis heute schmerzhaft fehlen. Diese 3,7 Millionen gesellten sich zu jenen etwa fünf Millionen Menschen hinzu, die der DDR schon vor 1989 den Rücken gekehrt hatten.
Da es sich überwiegend um Frauen handelte, die entweder selbst oder deren Mütter berufstätig gewesen waren, brachten sie auch ein entsprechendes Rollenverständnis mit – und eine einschlägige Erwartungshaltung. Die Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt, hat dieses Rollenverständnis mal in einen sehr schlichten Satz gekleidet. “Ich wäre nie auf die Idee gekommen, nicht zu arbeiten”, sagte sie. Nahezu alle Ostfrauen würden diesen Satz wohl unterschreiben.
Es ist denn auch kein Zufall, dass der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, die Frauenerwerbstätigkeit unlängst als eine überlebenswerte Hinterlassenschaft der DDR hervorhob. Dies wiederum ist umso erstaunlicher, als er Mitglied der CDU ist – also jener Partei, die sich Frauen über Jahrzehnte lediglich als Hausfrauen und Mütter vorstellen konnte.
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Marco Wanderwitz (CDU), Ostbeauftragter der Bundesregierung, spricht bei der Vorstellung des Jahresberichts zum Stand der Deutschen Einheit 2020.
© Quelle: Christophe Gateau/dpa
Mit der ostdeutschen Frauenerwerbstätigkeit ging in der DDR ein dichtes Netz an Kinderbetreuungsmöglichkeiten einher; meist waren sie in Betrieben angesiedelt. In den ersten Jahren nach der Vereinigung sorgte es in Westdeutschland vielfach für Fassungslosigkeit, dass die fünf ostdeutschen Länder das “von drüben” transferierte Steuergeld fleißig auch weiterhin in Kindertagesstätten und -horte investierten. Das galt als überflüssig, ja, als Luxus – und hat sich längst umgekehrt.
Heute fragt man im Westen nicht mehr: “Warum haben die das?” Man fragt: “Warum haben wir das nicht?” Dabei wird laut Wanderwitz zunehmend klarer, dass die Kinderbetreuung “auch einen vorschulisch-pädagogischen Aspekt hat und nicht nur Kinderverwahrung und –umspielung ist”. Der Sachse konstatiert: “Das ist auch so ein Punkt, wo man viel Ost im gemeinsamen Deutschland findet.”
Womit wir schon bei der Bildung im weiteren Sinne wären. Im Zuge einer nach 1968 eher links dominierten westdeutschen Bildungspolitik, in der geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer einen hohen Rang hatten, brachte die Vereinigung einen gewissen Umschwung. Denn in Ostdeutschland hatten mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer einen wesentlich höheren Rang.
Sie wurden abermals nicht zuletzt von Frauen belegt. Dass Angela Merkel promovierte Physikerin ist, sorgte im Westen allenthalben für Erstaunen – im Osten überhaupt nicht. Da gab es viele Physikerinnen mit Doktortitel. Auch die Renaissance von “Kopfnoten” an Schulen, die zum Beispiel das Sozialverhalten bewerten, führt der Ostbeauftragte der Bundesregierung auf einen ostdeutschen Einfluss zurück.
“Der Osten durfte niemals Beispiel sein”
Ob man in diesen wie in anderen Fällen von Kausalitäten sprechen kann, ist allerdings umstritten. Bei Frauenerwerbstätigkeit und Kinderbetreuung beispielsweise wurde im Westen lange Zeit gern auf Frankreich oder die skandinavischen Länder verwiesen. “Der Osten durfte niemals Beispiel sein”, sagt Katrin Göring-Eckardt. “Bei den Polikliniken war es ähnlich.”
Einrichtungen, in denen mehrere niedergelassene Mediziner unter einem Dach versammelt sind, heißen heute denn auch Ärztehäuser. So oder so aber gibt es zahlreiche Entwicklungen, die im Ergebnis mehr an die DDR als an die alte Bundesrepublik erinnern.
Dies gilt in jedem Fall für die kirchliche Prägung von Staat und Gesellschaft. Vor 1989 waren die Kirchen im Westen ein wesentlicher, in einzelnen Regionen bisweilen dominierender Faktor. Der katholische Kanzler Helmut Kohl suchte die Nähe zu den Bischöfen, und sie suchten die Nähe zu ihm. Die DDR-Führung jedoch duldete die Kirchen und ihre Repräsentanten bestenfalls.
Dass es nach 1989 neben Merkel, der Tochter eines evangelischen Pfarrers, viele weitere kirchlich gebundene Ostdeutsche in die Politik zog, ist nicht etwa Beleg für kirchlichen Einfluss in der DDR, sondern das Gegenteil. Die Kirchen waren als Institution der Minderheit nicht bloß Hort der Opposition, sondern mit ihren Synoden eine der wenigen Nischen in der DDR, in denen Demokratie ausprobiert und erlernt werden konnte.
Das wirkte sich nach ihrem Zusammenbruch vorteilhaft aus. Tatsächlich waren in Westdeutschland 1989 noch fast 85 Prozent der Bevölkerung Mitglied in der evangelischen oder der katholischen Kirche. In der DDR war der Anteil der Konfessionslosen auf fast 70 Prozent angewachsen.
Die Erwartung, in Ostdeutschland werde nach dem Sturz der kirchenfeindlichen SED-Diktatur eine Revitalisierung des Christentums stattfinden, hat sich nicht bestätigt. Vielmehr hat sich die Säkularisierung Westdeutschlands, die bereits vor 1989 eingesetzt hatte, kontinuierlich fortgesetzt. Betrachtet man evangelische und katholische Kirche getrennt voneinander, ist die Gruppe der Konfessionslosen mittlerweile gesamtdeutsch sogar die größte. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass die Konfessionslosen diesen Prozess eher begrüßen dürften, während die konfessionell Gebundenen ihn eher beklagen werden.
Man entdeckt viel Ost im Westen – man muss nur suchen
In manchen Kreisen wird immer mal wieder kritisch festgestellt, dass die vereinigungsbedingte Senkung sozialer Standards in Ostdeutschland im Zuge der dortigen Massenarbeitslosigkeit der Neunziger- und der Nullerjahre sich ebenfalls gesamtdeutsch niedergeschlagen und in der Agenda 2010 Wirkung für die gesamte Republik entfaltet habe. Sollte dies stimmen, dann wäre es freilich ein Einfluss gewesen, der aus der Nach-1989er-Zeit herrührt und nicht aus der Vor-1989er-Zeit.
Als uneingeschränkt positiv dürfte bewertet werden, was die Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Anna Kaminsky, so formuliert: “Die Ostdeutschen haben die Erfahrung der friedlichen Überwindung einer Diktatur in die Einheit eingebracht. Das ist natürlich das Allerwichtigste.” Anschließend hätten sie sich als im guten Sinne anpassungsfähig erwiesen sowie im Transformationsprozess Durchhaltevermögen, Flexibilität und Mobilität an den Tag gelegt.
Davon, dass die DDR jenseits von grünem Pfeil und Sandmännchen (Ost) gleichsam rückstandslos in Gesamtdeutschland aufgegangen sei, kann jedenfalls keine Rede sein. Man entdeckt auf den zweiten Blick eine Menge Osten im Westen – je länger man schaut, desto mehr fällt auf. Man muss nur danach suchen wollen.