Der Zar in der Manege: Das hat Putin in 20 Jahren an der Macht bewegt
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Der neue Zar: Wladimir Putin, montiert in ein Gemälde von Alexander II. Nikolajewitsch, dem früheren Kaiser von Russland. montage rnd
Moskau. Blaugraue Gewitterwolken schwimmen heran, aber das schert die Moskauer nicht. Sie genießen in diesen Sommertagen ihren Feierabend. In der lauen Luft liegen melodischer Sowjetrock, Saxofon-Jazz und kaukasischer Rap. Lässig schlendern die Moskauer vorbei an leuchtenden Läden, einige kurven auf E-Rollern durch das Gewimmel. Über der Kamergerskaja-Fußgängerzone funkeln Kunststoffsterne. Plötzlich kommt heftiger Wind auf, reißt dutzende Sterne von den Leinen. „Mama“, jubelt ein kleines Mädchen, „es regnet Sterne.“
Das neue Moskau wirkt schöner und entspannter denn je. Stolz zeigen Hauptstadtbewohner zum Beispiel Gästen aus Berlin eine neuartige Attraktion nach der anderen: So etwas habt ihr doch in ganz Deutschland nicht.“ So etwas wie zum Beispiel den Sarjadje-Park am Ufer der Moskwa: zehn Hektar, mit viel Holz, viel Grün und viel Licht, mit künstlich angelegten Biotopen, frostsicher dank Erdheizung, tagsüber und erst recht abends anheimelnd wie eine gigantische Open-Air-Wellness-Landschaft. Das US-Magazin „Time“ nahm den Park 2018 in eine Liste der 100 „großartigsten Plätze der Welt“ auf. Die Moskauer nennen den Platz, halb anerkennend, halb satirisch „Putins Paradies“.
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„Putins Paradies“: Besucher spazieren im Sarjadje-Park im Zentrum der russischen Hauptstadt Moskau.
© Quelle: dpadpa
„Die russische Hauptstadt“, urteilt sogar der notorische deutsche Russlandkritiker Boris Reitschuster, „ist mittlerweile gepflegter als die deutsche.“ Die Ströme der Jogger und Joggerinnen, die an Moskaus Beachvolleyplätzen, Pizzerias und Freilichtkinos vorbeilaufen, sind dicht wie im New Yorker Central Park. Weiter stadtauswärts turnen Kinder in Klettergärten über weichem Tartanbelag.
„Wir haben einen großen Sprung nach vorn gemacht“, freut sich Witali Stadnikow, Urbanistikprofessor in Moskau, und lobt auch die neuen „Multifunktionszentren“, wo Bürger alle Amtsangelegenheiten erledigen können ohne die monströsen Wartezeiten und den Schmiergelddruck früherer Jahre.
Es könnte alles so schön sein in Moskau, Russlands alter und neuer Traumstadt.
In jüngster Zeit aber hat sich das Gefühl drohenden neuen Unheils eingeschlichen in die Hinterköpfe der Hauptstadtbewohner. Die Leute aus dem Sicherheitsapparat wirken noch ein bisschen strenger als bisher, die Dissidenten noch ein bisschen vorsichtiger.
Aufstand in Putins Paradies
An diesem Wochenende werden erstmals seit Beginn der jüngsten Proteste nicht mehr nur einige tausend, sondern wohl mehr als 100 000 Menschen auf die Straße gehen, um ein „Russland ohne Putin“ zu fordern. Wie kam es zu diesem Aufstand im Paradies des Zaren?
„Der fragile Frieden, der bis vor Kurzem zwischen Moskauer Stadtregierung und Zivilgesellschaft bestand, ist zum Teufel gegangen“, schreibt der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew in einem am Donnerstag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichten Aufsatz. Die Zivilgesellschaft befinde sich längst „in quälender Erwartung der Ablösung des Putin-Regimes“. Die modernen Moskauer hätten erwartet, dass sich die Obrigkeit aber schon jetzt bemüht, Moskau „das Gesicht einer komfortablen europäischen Metropole zu geben“. Diese Bemühungen habe die Stadtregierung aufgegeben, als sie diverse unabhängige Kandidaten nicht zur Kommunalwahl am 8. September zuließ – „und hier begann der Krieg.“
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Frieden in Auflösung? Polizeikräfte verhaften rund 300 Regimekritiker bei einer Demonstration in Moskau am 3. August 2019.
© Quelle: AP
Aus Sicht des Kreml ist es eine undankbare Aufwallung, die da in Gang gekommen ist. Die Stadt gibt pro Einwohner mehr aus als London oder Rom. Allein im vorigen Jahr hat Moskau 33 Kilometer U-Bahn-Linie und 17 neue Metrostationen in Betrieb genommen. Und dann gehen die Leute auf die Straße?
Verständnislos blickt Putin auf eine neue Generation junger Russen. Es sind junge Leute, die keinen anderen Herrscher vor ihm kannten. Auch sind es Leute, die noch gar nicht vertraut sind mit der ganzen Härte, zu denen die russische Führung notfalls fähig ist. Was will Putin nun tun? Sie verprügeln lassen, einsperren, ihnen Angst machen?
Im Zweifel hat Putin immer auf Härte gesetzt, er kennt es nicht anders. War das Taktik? Oder auch ein Ausgleich dafür, dass er im Vergleich zu anderen Männern immer so schmächtig wirkt und so klein?
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Der frühere russische Ministerpräsident Boris Jelzin (links) gratuliert seinem Nachfolger Wladimir Putin. Am 09. August 1999 berief der damalige russische Präsident Boris Jelzin Wladimir Putin zum neuen Regierungschef. 2000 überließ Jelzin Putin das Präsidentenamt, das er mit Ausnahme einer Zeit als Regierungschef, seither innehat.
© Quelle: dpa
Auf historischen Bildern steht Putin, damals 46 Jahre alt, wie ein Schüler neben dem übermächtig wirkenden, einen halben Kopf größeren Präsidenten Boris Jelzin. Es ist der 9. August 1999, und Jelzin hat Wladimir Putin, den unscheinbar wirkenden Chef des Geheimdienstes FSB, soeben zum russischen Ministerpräsidenten ernannt. Wohl kein Beobachter der Kreml-Zeremonie ahnt in diesem Moment, dass er Weltgeschichte live miterlebt. Doch so ist es. Denn in Wahrheit ist Jelzin schwach, nicht Putin.
Der Petersburger Arbeitersohn, der Jura studiert und beim KGB Karriere gemacht hat, ergreift seine Chance. Bombenanschläge in Russland, angeblich von Islamisten, spielen ihm in die Hand. Im September 1999 verspricht der damalige Ministerpräsident seinen Landsleuten, er werde die „Terroristen“ verfolgen, notfalls rund um den Planeten, in jedem Bahnhof und jedem Flughafen. „Und wenn wir sie auf der Toilette erwischen, werden wir sie auch dort abknallen.“
Terroristen machten aus Putin den starken Mann
Endlich hatte Russland wieder ein Feindbild. Endlich sahen sich Land und Leute wieder geeint hinter einem starken Mann. Dem Herrscher im Kreml räumten die Russen, ganz nach Landessitte, nur allzu gern die Befugnis ein, hart durchzugreifen – ohne lange zu fackeln oder irgendjemanden zu fragen.
Von Anfang an kreiste Putins Präsidentschaft um die Wiedergewinnung von nationaler Würde. Den Untergang der Sowjetunion in den Jahren nach dem Mauerfall hatte er als weltpolitische Katastrophe empfunden – und auch als persönliche Schmach. Unvergesslich blieben ihm die wirren Tage, in denen er als KGB-Offizier in Dresden, schon umlagert von bärtigen Bürgerrechtlern, um Weisungen aus Moskau bat - und keine Antwort bekam. Demonstranten drohte er dann aufeigene Faust mit dem Gebrauch der Schusswaffe.
Anfangs hielten viele in Moskau den neuen Präsidenten Putin noch für „lenkbar“, etwa durch Größen aus der Wirtschaft. Doch das erwies sich als grandioser Irrtum. Putin lenkte alles lieber selbst, die ganz großen Dinge, aber auch viele Details. Heute, 20 Jahre später, wird Putin im Inland wie im Ausland bewundert und gefürchtet, verehrt und gehasst. Eines jedenfalls schwingt immer mit, wenn die Rede auf Putin kommt: Respekt.
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Putin lenkt gerne selbst: Der russische Präsident, aufgenommen 2007 bei der Jagd.
© Quelle: Ria Novosti/epa/POOL
Russland lag am Ende der Jelzin-Jahre am Boden. Nach dem Untergang der Sowjetunion war das Riesenreich in Anarchie verfallen. Der Staat zahlte keine Renten und Gehälter mehr. Die berüchtigten Oligarchen, die nichts anderes waren als Mafiapaten, rissen mittels Mord und Terror das Volkseigentum an sich. 1998 raubte die Rubel-Krise den Bürgern die letzten Ersparnisse. Im Jahr darauf vollzog die Nato ihre erste Osterweiterung und ließ im Kosovo-Krieg, mit Unterstützung von Rot-Grün in Berlin, Bomben auf Serbien fallen: Demütigungen für Russland, wohin man sah.
Stabilität, kein Gründergeist
Dem neuen Präsidenten gelang es dank sprudelnder Einnahmen aus Öl- und Gasgeschäften zwar schnell, die wirtschaftliche Lage einigermaßen zu stabilisieren. Den entscheidenden Schritt nach vorn aber wagte Putin nicht: Bis heute fehlt es dem Land an einer quicken Gründerszene aus kleinen und mittleren Unternehmen. Dazu fehlen Russland drei Faktoren, die aus Sicht westlicher Investoren vor allem auf dem wichtigen Feld der modernen Datenwirtschaft unerlässlich sind: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Kreativität.
Auch in der Außenpolitik hofft der Westen auf einen Kurswechsel in Moskau, auf mehr Öffnung, auf ein neues Miteinander. Anfangs setzte Putin, der als KGB-Offizier Deutsch gelernt hatte, auf eine Annäherung an den Westen, wie seine berühmte Rede in Berlin im September 2001 zeigte. Zwei Wochen nach den Terroranschlägen in New York trat Putin im Deutschen Bundestag ans Mikrofon und bot „in der Sprache von Goethe, Schiller und Kant“ eine neue Partnerschaft zwischen Ost und West an. „Wir tun dies als ein Volk, das gute Lehren aus dem Kalten Krieg und der verderblichen Okkupationsideologie gezogen hat.“ Abgeordnete aller Parteien applaudierten stehend.
Doch im Konflikt um die Ukraine gab Putin die mögliche Annäherung an den Westen wieder auf. Im Jahr 2014 ließ er die Krim völkerrechtswidrig besetzen. In diesen Tagen lässt Putin zudem in der Ostukraine russische Pässe austeilen. Das sei, sagt Marieluise Beck, Russland-Expertin der Grünen, de facto eine „hybride Annexion der besetzten Gebiete des Donbass“. Völkerrechtlich erlaubt sei das nicht.
Den russischen Präsidenten schert das nicht. Die Passvergabe kann er demnächst als Verhandlungsgegenstand in seinem großen internationalen Poker anbieten, zum Beispiel bei einem Treffen mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron am 19. August in dessen Mittelmeerresidenz Fort Brégançon an der Riviera. Sein harter Kurs, verbunden mit einem ständiges Ausnutzen der "Trotteligkeit des Westens" (Beck im Interview mit dem Deutschlandfunk), hat Putin stets genützt.
Von Stefan Schollund Ulrich Krökel