Der Optimismus des Snowden-Anwalts Wolfgang Kaleck: „Auf Dauer so wie Goliath“
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„Mir hat die Wucht der Proteste sehr imponiert“, sagt Wolfgang Kaleck über die Demonstrationen nach dem Tod von George Floyd.
© Quelle: imago images/ZUMA Wire
Berlin. Einen Tag im Leben von Wolfgang Kaleck muss man sich wie einen wilden Ritt zu den Unrechtszonen dieser Welt vorstellen. Was ihn gerade beschäftigt? Da muss der 60-Jährige tief einatmen. Und weit ausholen.
Da wären also: die Frage, welcher Initiative zur weltweiten Impfgerechtigkeit er und seine Organisation nun beitreten sollen. Dann der Film zu 20 Jahren Guantanamo, den er planen muss. Es warten auf Antwort: die Argentinierinnen, die eine Aktion gegen die Zwangsarbeit in Katar planen. Die Unterstützer jenes Journalisten aus Myanmar, der gerade auf dem Flughafen in Frankfurt festsitzt. Und dann ist da auch noch der nächste Prozess wegen Kriegsverbrechen in Syrien, der demnächst in Deutschland beginnen könnte.
„Es besagt viel über den Zustand der Welt, wie viele Anfragen wir bekommen“, sagt Kaleck, „und im Grunde müssten wir uns überall engagieren.“ Das Unrecht wird gerade, global betrachtet, nicht weniger. Für einen Mann und eine Organisation, die sich dem Kampf für mehr Gerechtigkeit verschrieben haben, birgt das die Gefahr, sich zwischen all den Brandherden weltweiter Menschenrechtsverletzungen zu verlieren. „Es wird manchmal so viel, dass wir gelegentlich selbst Schwierigkeiten haben, hinterherzukommen“, sagt Kaleck im Videogespräch aus seinem Büro in Berlin.
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„Im Grunde müssten wir uns überall engagieren“: Wolfgang Kaleck.
© Quelle: Nikita Teryoshin
Da liegt der Versuch, sich über das eigene große Ziel klar zu werden und sich des schon Erreichten zu versichern, wahrscheinlich nahe – und genau so ein Versuch ist Kalecks neues Buch „Die konkrete Utopie der Menschenrechte“ (Verlag S. Fischer, 176 Seiten, 21 Euro): Es ist das Werk eines Mannes also, der gegen alle Wahrscheinlichkeiten zuversichtlich bleibt. Ein großes Trotzdem in Buchform.
Kaleck ist Anwalt, und sein berühmtester Mandant ist Edward Snowden, jener ehemalige CIA-Mitarbeiter und Whistleblower, der seit gut acht Jahren in Russland im Asyl lebt. Vor allem aber ist Kaleck Gründer des European Center for Constitutional and Human Rights, kurz ECCHR. Es ist eine Organisation, die vor großen Namen nicht zurückschreckt. Der Anwalt hat im Jahr 2006 den damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und den CIA-Direktor George Tenet sowie später auch die stellvertretende CIA-Chefin Gina Haspel angeklagt.
Aufmerksamkeit auf das Unrecht gelenkt
Mit dem ECCHR hat er zudem DDR-Bürgerrechtler ebenso vertreten wie die Opfer der argentinischen Militärdiktatur oder die Hinterbliebenen einer Brandkatastrophe in einer pakistanischen Textilfabrik, die auch für Kik fertigte. Wo Menschenrechte verletzt werden, ist Wolfgang Kaleck oft nicht weit.
Der juristische Erfolg hielt sich dabei in den bekanntesten Fällen oft in Grenzen – wenn man zum Beispiel mal davon absieht, dass Rumsfeld wegen der Anzeige beinahe auf eine geplante Reise nach Deutschland verzichtet hätte. In anderer Hinsicht waren all diese Aktionen jedoch umso fruchtbringender: Sie lenkten die Aufmerksamkeit der Welt auf das Unrecht, um das es Kaleck geht: auf die irakischen Gefangenen, die von US-Soldaten in Abu Ghuraib gefoltert wurden, auf die verschleppten Söhne und Töchter in Argentinien oder die menschenfeindlichen Produktionsbedingungen in asiatischen Textilfabriken. Dass die Welt davon erfuhr, ist auch das Verdienst von Kaleck und seinen Kollegen.
Der Optimismus kostet Kraft
Aber eine „konkrete Utopie“ – ausgerechnet jetzt? Da weltweit autoritäre Regime demokratische Bewegungen im Keim ersticken? Da gerade das Militär in Myanmar die Protestierer niederschießt, die chinesische Führung die Uiguren in Lager sperrt, der türkische Präsident Oppositionelle nach Belieben inhaftiert und russische Oppositionelle ihr Leben riskieren? Und wenn man etwa auch das Recht auf Gesundheit als Menschenrecht versteht und sich anschaut, wie viele Covid-19-Impfdosen gerade in die USA und nach Europa und wie wenige nach Afrika gehen: Gibt es da wirklich Grund für Zuversicht?
„Der Optimismus, der aus dem Buch spricht, hat mich auch Kraft gekostet“, räumt Kaleck ein – zumal die Pandemie auch die Zusammenarbeit der Menschenrechtler erheblich erschwert hat. Im vergangenen Frühjahr wollte der Anwalt in New York als Ehrenprofessor mit Historikern und anderen Juristen Strategien gegen die Folgen des Kolonialismus beraten; doch stattdessen saß er nun allein in seinem Zimmer und rang sich dieses Buch mit seiner grundpositiven Zukunftssicht ab.
Die unerwartete Renaissance der Kolonialismusdebatte
„Meine Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt und ich müssen seit März 2020 schmerzhaft realisieren, dass sich die Differenzen in und zwischen unseren Gesellschaften eher vertiefen und die Bedingungen unserer Menschenrechtsarbeit erschwert werden, während wir innerhalb der uns gesetzten nationalen Grenzen ausharren müssen“, schreibt er darin.
Aber da gibt es, genau in dieser Zeit, eben auch die entgegengesetzten Entwicklungen, die Kaleck trotzig als Tendenz zum Positiven deutet. „Mir hat die Präsenz und die Wucht der Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung sehr imponiert“, sagt der Anwalt. Dazu kamen die neue Stärke der Frauenbewegung, die unerwartete Renaissance der Kolonialismusdebatte oder auch Erfolge von Fridays-for-Future-Aktivisten wie jetzt mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz.
Auf der Landkarte des Widerstands
Das Unrecht ist ja nicht verschwunden, im Gegenteil, das ist wenigen klarer als Wolfgang Kaleck, der vieles ist, aber kein Schönredner. Nur bleibt das Unrecht, das ist ermutigendes Resümee, eben auch immer seltener unwidersprochen. Wenn man die Landkarte des Unrechts und die Landkarte des juristischen Widerstands dagegen übereinanderlegt, dann sei das mehr oder minder deckungsgleich: „Wir müssen nach wie vor viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf der ganzen Welt beklagen“, sagt Kaleck, „allerdings finden mittlerweile auch viele Versuche der Aufarbeitung statt.“
Und dann sind da auch die unerwarteten Erfolge, die es durchaus von Zeit zu Zeit gibt – wie jüngst die Ankündigung der Bundesregierung, einen Teil der Benin-Bronzen, Ende des 19. Jahrhunderts geraubte Kunstwerke, an Nigeria zurückzugeben. Mit der Rolle des Davids jedenfalls will sich Kaleck mit seinem ECCHR auf Dauer nicht zufriedengeben. Diese sei ja „ganz nett“, sagt er. „Aber auf Dauer wollen wir so viele und so stark wie der Goliath werden.“