Der GAU und wir - Leben in Tschernobyl

Die frühere Schaltzentrale von Tschernobyl: Scharen von Touristen zieht es in die Sperrzone zu den Überresten des Reaktors. Und das nicht erst, seit die fünfteilige amerikanisch-britische Serie gesendet wird, die das Unglück von 1986 erschütternd realitätsnah ins Gedächtnis zurückrief. "Chernobyl" gilt schon als der größte Serienerfolg in diesem Jahr.

Die frühere Schaltzentrale von Tschernobyl: Scharen von Touristen zieht es in die Sperrzone zu den Überresten des Reaktors. Und das nicht erst, seit die fünfteilige amerikanisch-britische Serie gesendet wird, die das Unglück von 1986 erschütternd realitätsnah ins Gedächtnis zurückrief. "Chernobyl" gilt schon als der größte Serienerfolg in diesem Jahr.

Am Eingang zur Kantine des Atomkraftwerks Tschernobyl sitzt ein noch junger Hund. Über ihm hängt ein Schild: „Wir bitten dringend, Hunde nicht zu füttern. Nehmen Sie Rücksicht auf die Pflege der Grünanlagen.“ Die Hunde hier ignorieren das Schild, die Arbeiter, die auf der Bank gegenüber sitzen, auch. Sie streicheln und füttern die Streuner, große, sehr schlanke, weißgraue Tiere, die aussehen wie Kreuzungen aus Wölfen und Windhunden.

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Niemand weiß, wie viele Hunde nach dem Reaktorunfall vom 26. April 1986 umgekommen sind. Es gibt auch keine endgültige Statistik, wie viele Menschenleben die Atomkatastrophe gekostet hat. „Offiziell sind es noch immer die 31 Leute, deren Fotos hier hängen“, sagt eine junge Mitarbeiterin des Tschernobyl-Museums in dem 45 Kilometer entfernten Städtchen Slawutytsch. Dort lebt jetzt ein Großteil der Atomschtschiki, der AKW-Techniker von Tschernobyl, dessen letzter Reaktor Ende 2000 abgeschaltet wurde. Aber im Museum gibt es auch Fotos abgemagerter Strahlenopfer. Auf einer Schrifttafel daneben heißt es, allein in der Ukraine hätte die Gesundheit von 2,1 Millionen Menschen, darunter 450 000 Kinder, gelitten. Westliche und russische Wissenschaftler streiten über 4000, 60 000 oder 1,44 Millionen Krebstote. Das Unglück, das Tschernobyl über ungezählte Menschen gebracht hat, ist weder in Röntgen noch in Mikrosievert zu messen.

Der GAU als Thriller: HBO-Produktion erzählt “Chernobyl” erzählt von der Katastrophe

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Über Tschernobyl und die Menschen, die in der Nähe des Atomkraftwerks wohnen, wird momentan wieder viel geredet. Das liegt weniger an einem gesteigerten Interesse an Kernkraft oder deren Gefahren, sondern an einer Fernsehserie. Die US-amerikanisch-britische Miniserie „Chernobyl“ ist der bisherige Überraschungserfolg des Jahres. Der Fünfteiler gilt laut der Internetplattform IMDb, bei der registrierte Kunden Bewertungen abgeben können, als beste Serie der Welt – noch vor „Game of Thrones“. Mit viel Liebe zum historischen Detail erzählt „Chernobyl“ vom Tag des Unglücks am 26. April 1986, von den Tagen nach der Katas­trophe und dem Versuch tapferer Wissenschaftler und Forscher, die Ursache des Reaktorunglücks zu finden.

Wenn die Leute von Tschernobyl miteinander reden, geht es öfter mal um Hunde. Alexei Moskalenko war Milizleutnant in der Kleinstadt Prypjat, wo die Atomschtschiki von Tschernobyl und ihre Familien wohnten. Er sagt, von den zehn Polizeihunden in Prypjat habe nur einer überlebt, eine Königsdogge, deren kurzes Fell man reinwaschen konnte. Neun Schäferhunde mussten erschossen werden, weil sich die radioaktiven Teilchen aus ihren längeren Haaren nicht mehr entfernen ließen.

Als die 49 000 Einwohner zwei Tage nach der Explosion im vierten Reaktor von Tschernobyl ihre Häuser und Wohnungen verlassen mussten, ließen sie ihre Haustiere mit Wasser und Futter zurück, man hatte ihnen erklärt, sie könnten nach drei Tagen „ungünstiger radioaktiver Lage“ heimkehren. Aber das verstrahlte Prypjat wurde zur verbotenen Stadt, Moskalenko und andere Milizionäre bewachten sie.

Video: Am 29. April 1984 berichtete die “Tagesschau” ausführlich über die Reaktorkatastrophe

Unser voll besetzter Reisebus saust über eine leere Asphaltgerade. Links und rechts hat Sturm Schneisen in die Kiefernforste gepflügt, dort hängen tote graue Stämme schräg. Dazwischen aber drängt frisches Grün, junge Birken, Erlen und Pappeln dem Licht entgegen. Die Wälder um Tschernobyl gedeihen, aber Giuseppe, dem italienischen Englischlehrer auf dem Fensterplatz, ist das alles nicht ganz geheuer. In Kiew habe man ihm erzählt, er solle Wodka trinken oder trockenen Rotwein, das helfe gegen die Strahlung. „Aber Alkohol“, seufzt er, „ist hier ja verboten.“

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Inzwischen bieten ein Dutzend ukrainischer Reisebüros Fahrten in die 2600 Quadratkilometer große Sperrzone an, ein- oder mehrtägig, auch individuell. Bis zu 2000 Touristen am Tag, meist Ausländer, wollen an der Radioaktivität schnuppern, die Apokalypse ist zur Attraktion geworden.

Die Erinnerungen an das Unglück sind noch präsent. „Es lief alles wie üblich, nur in der Schaltzentrale hatte sich viel Volk versammelt“, sagt Viktor Iwkin. Er arbeitete in der Unglücksnacht als Messtechniker im vierten Reaktorblock. In dieser Nacht war ein Experiment geplant. Und als Viktor von einem Gang aus dem Turbinensaal durch die Schaltzentrale zurückkehrte, bemerkte er, dass es Probleme gab. Die Aktivität des Reaktors sank viel tiefer, als bei dem Test vorgesehen war. „Aber dann haben sie den Reaktor wieder stabilisiert, ich bin gegangen.“

Reaktorunglück vor 33 Jahren: Tonnen radioaktiver Teilchen flogen in die Luft.

Er erlebte nicht mehr, wie sich das langsame Hochfahren überraschend beschleunigte. Die Leistung des Reaktors vervielfältigte sich in Sekunden. Der zuständige Ingenieur drückte auf den Notabschaltknopf. Dabei wurden alle mit Grafit versehenen Regelstäbe in den Reaktor gedrückt, um die atomaren Kettenreaktionen zu bremsen. Aber die Konstruktion der RBMK-Reaktoren besaß einen fatalen Mangel: Das Einfahren der Bremsstäbe wirkte zunächst umgekehrt, Aktivität und Temperatur im Reaktor schossen in die Höhe, das Kühlwasser kochte auf, zwei Wärmeexplosionen zerrissen den Reaktor und die 3000 Tonnen schwere Abdeckplatte des Blockes. Tonnen radioaktiver Teilchen flogen in die Luft.

Ein dumpfes Dröhnen, das alles erschütterte, dann noch eines.

Viktor Iwkin, Messtechniker im Atomkraftwerk Tschernobyl

„Ein dumpfes Dröhnen, das alles erschütterte, dann noch eines“, erinnert sich Iwkin. Das Licht fiel aus, bis sich nach 45 Sekunden das Notstromaggregat einschaltete. „Im Korridor war außer milchigem Dampf nichts zu sehen.“

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Draußen bemerkte kaum jemand etwas. „Es knallte zweimal, als hätte jemand in der Nachbarschaft die Tür zugeschlagen“, sagt Moskalenko, er hatte 400 Meter weiter gerade zwei Schwarzfischer am Kühlteich von Tschernobyl erwischt. Aber der Reaktor war jetzt atomarer Schutt, „es regnete Asche, die nach verkohltem Kabel roch“, Moskalenkos Gesichtshaut glühte, aber im Spiegel sah er später ein leichenblasses Gesicht. Strahlenverbrennungen. Zwei Kolleginnen, die 200 Meter näher am Reaktor Dienst taten, wurden im Notarztwagen abtransportiert, ihnen war schlecht geworden. Beide Frauen starben wenige Wochen später.

Tschernobyl nach dem Gau: In der Sperrzone leben jetzt Wölfe und Bären

Der Urwald von Tschernobyl hat das frühere Kolchosdorf Salissja verschluckt, hier ist es sehr grün und sehr still. Nur der Wind lässt die Blätter rascheln, Milliarden Blätter, ihr Rascheln schwillt zu einem rauschenden Idyll. In der Zone sind wieder Wölfe aufgetaucht und Braunbären. Wisente und Przewalski-Wildpferde wurden erfolgreich ausgewildert, auch andere seltene Tierarten vermehren sich. Die Radioaktivität schadet dem Wild offenbar viel weniger als die Zivilisation.

Iwkin erzählt, ein Betastrahlenmesser an der Wand sei regelrecht geplatzt. Schon vorher hatten die Messtechniker auf Kommando ihres Chefs Kaliumtabletten geschluckt, um die Schilddrüsen vor dem heftig strahlenden Jod zu schützen, das sie jetzt einatmeten. Die Männer zogen sich zu ihren Kollegen in den benachbarten dritten Reaktorblock zurück, drangen aber immer wieder in den Turbinensaal des Unglücksreaktors vor, nahmen auf Anforderung aus der Zentrale Messungen vor, schalteten Systeme ein oder aus. Die Nachtschicht kämpfte um die Rettung des schon zerstörten Reaktors.

Vitja, du hast heute genug geschluckt. Und ich hab ja schon zwei Kinder.

Igor Fedin, Messtechniker und Kollege von Viktor Iwkin im Atomkraftwerk Tschernobyl

Gegen 5 Uhr morgens kam das Kommando, die Hälfte der Messtechniker abzuziehen. „Mein Partner Igor Fedin sagte sofort: ,Vitja, du hast heute genug geschluckt. Und ich hab ja schon zwei Kinder.‘“ Den Rest der Nachtschicht verbrachte Iwkin im Luftschutzkeller des AKW, sah, wie Kollegen sich erbrachen, ihn packten die Brechanfälle Stunden später, als er zu Hause frühstücken wollte. Fedin starb vor sechs Jahren.

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Selbst die Plattenbauten der Stadt Prypjat wirken wie löchrige Felsen im Urwald. Schwere Wassertropfen klopfen geduldig auf den mürben Holzboden einer Schulsporthalle, jemand hat eine Gasmaske aufs Fensterbrett gelegt. Auch der letzte Tourist soll wohl begreifen, dass hier die Welt untergeht. Im Einkaufszentrum am Leninplatz hängen noch blau-weiße sowjetische Schilder: „Fleisch und Fette“, „Käse und Quark“. Aber darunter schimmeln Sofas im Schutt, es herrscht Unordnung wie nach einem verlorenen Krieg.

Am Abend nach dem Unfall stiegen Iwkin und alle Kollegen der Nachtschicht, die sich noch auf den Beinen hielten, in Prypjat wieder in den Bus nach Tschernobyl. Als sie am Einkaufszentrum vorbeifuhren, scherzte einer über einen Plan der AKW-Leitung: Sie wollte alle Arbeitsplätze, die nicht unmittelbar mit der Bedienung der Reaktoren zu tun hatten, von „besonders schädlich“ auf „schädlich“ herunterstufen. „Jetzt gibt es auch im Einkaufszentrum keinen Job mehr, der nicht ,besonders schädlich‘ ist.“ Der ganze Bus lachte.

Die Atomschtschiki kehrten an ihren jetzt mörderischen Arbeitsplatz zurück, dort kämpfte eine wachsende Zahl von Feuerwehrleuten, Soldaten und Fachleuten gegen den Super-GAU. Hunderttausende folgten, eine Massenheldentat ohne viel Pathos. „Wir haben das getan, was unsere Pflicht war“, sagen Iwkin und Moskalenko fast wortgleich. „Niemand hat gefragt, welche Strahlung er riskiert“, erklärt der Atomphysiker Viktor Gerasko. Gerasko arbeitete nach dem Unfall 22 Jahre am Reaktor und seiner „Sarkophag“ genannten Schutzhülle. Er und andere Experten hätten vor strahlenträchtigen Aufgaben manchmal ihr Dosimeter liegen lassen, um nicht wegen zu hoher persönlicher Dosen aus dem Gefecht genommen zu werden.

“Einzelheiten der Katastrophe”: Anwohner diskutieren über TV-Serie “Chernobyl”

Ein Großteil der früheren Atomschtschiki und der evakuierten Einwohner von Prypjat lebt heute in Slawutytsch, einer 25 000-Seelen-Stadt, die für sie nach der Katastrophe 45 Kilometer von Tschernobyl entfernt gebaut worden ist. Auch hier wird über die Serie „Chernobyl“ diskutiert.

„Einerseits hat der Film das Thema wieder in die Öffentlichkeit gebracht“, sagt die Bloggerin Ljudmila Bogun, die zahlreiche Dokumentarfilme über Tschernobyl und seine Überlebenden gedreht hat. „Er zeigt viele Einzelheiten der Katas­trophe, von denen die meisten Leute nichts mehr wissen. Aber sie werden dabei stark entstellt. Das ist künstlerische Freiheit, aber gerade junge Zuschauer nehmen sie als hundertprozentige Wirklichkeit wahr.“ So stürzt im Film ein Hubschrauber am Tag nach der Katastrophe wegen enormer Strahlung über dem Reaktor ab. Tatsächlich fiel er über ein halbes Jahr später vom Himmel, er war an die Stahltrosse eines Krans geraten.

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Auch Iwkin beschwert sich über den Film. Der stellvertretende Chefingenieur des AKW, Anatoli Djatlow, der das verhängnisvolle Experiment leitete, werde als unfähiger Bösewicht gezeigt, der er nie gewesen sei. „Er war streng, aber korrekt. Undenkbar, dass er seine Untergebenen mit Flüchen beschimpft oder mit Aktenmappen beworfen hätte.“ Aber bei aller Detailkritik gibt es auch von den Atomschtschiki Lob für den Film. „Näher an der Wahrheit war bisher kein Film über Tschernobyl“, sagt Iwkin.

Das stillgelegte Atomkraftwerk Tschernobyl sieht ein bisschen aus wie das Ruhrgebiet. Postmodern. Über einer verrotteten Industrielandschaft thront die neue Schutzhülle des Reaktors und glänzt silbern wie ein futuristisches Fußballstadion. Ein 2-Milliarden-Euro-Gewölbe. Es fehle an zweifelsfrei funktionierender Technik, um das Konzept des Projekts zu verwirklichen, den alten Stahlbetonsarkophag darunter auseinanderzunehmen und den verbliebenen atomaren Brennstoff zu entsorgen.

Der Messtechniker Iwkin und der Milizionär Moskalenko wurden mit schweren radioaktiven Dosen von 600 und 870 Millisievert in eine Kiewer Strahlenheilklinik gebracht und monatelang behandelt, erhielten Bluttransfusionen, Ascorbin, Nikotinsäurespritzen und Importmedikamente. „Es gab kaum Erfahrungen, die Ärzte haben experimentiert“, sagt Iwkin. Nicht ohne Erfolg. Beide kehrten in die Zone zurück, Moskalenko pa­trouillierte in Prypjat, Iwkin arbeitete im dritten Reaktorblock, bis auch der 2000 ausgeschaltet wurde.

Wie andere Atomschtschiki glaubt er weiter an die Kernkraft. „All diese Sonnen- oder Windenergieanlagen sind enorm aufwendig und kaum effektiv“, sagt Iwkin. Aber man müsse der Atomkraft mit Respekt begegnen.

Die Tschernobyler sind jetzt um die sechzig, einer hinkt leicht, dem anderen zittert die Hand, ein dritter hat ein paar hellweiße Flecken an den Ellbogen. Aber krank oder gar siech wirkt keiner. Alle sind in Rente, trotzdem arbeiten die meisten weiter. Iwkin, er überstand 2003 einen Herzinfarkt, leitet jetzt eine Montagefirma. „Ich muss ja schließlich meine Enkel großziehen“, Iwkin lächelt.

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Er und die anderen sagen, sie hätten damals nicht an ihren Tod geglaubt, seien jung und optimistisch gewesen. Aber es bleibt ein Rätsel, ob ihnen ihre innere Einstellung, ihre körperliche Kraft oder purer Zufall das Leben gerettet hat.

Ein Liquidator, eine Hüne, der aussieht, als hätte er eine Karriere als US-Footballspieler hinter sich, sagt, er habe direkt nach radioaktiven Arbeiten reinen Alkohol getrunken und später roten, trockenen Wein. „Vor einigen Jahren hat man mir einen Zahn gezogen und gemessen: 800 Röntgen. Aber schreiben Sie das nicht, das glaubt sowieso niemand, mit der Dosis überlebt niemand.“ 800 Röntgen, das entspricht 8000 Millisievert. Der Tod drückt auch in Tschernobyl manchmal ein Auge zu.

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