Demonstrationen - “Die progressiven Kräfte vernetzen sich”

Wer einmal auf die Straße geht, tut das auch immer wieder – Demoforscherin Katarina Stjepandic beobachtet eine politisierte Jugend.

Wer einmal auf die Straße geht, tut das auch immer wieder – Demoforscherin Katarina Stjepandic beobachtet eine politisierte Jugend.

Berlin. Frau Stjepandic, am vergangenen Wochenende waren bei den sehr kurzfristig organisierten Black-Lives-Matter-Demonstrationen mehrere Hunderttausend Menschen in ganz Deutschland auf der Straße. Warum konnten diese Demonstrationen so groß werden?

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Der Tod von George Floyd und das Video waren in kürzester Zeit überall präsent. Das waren andere Videos von rassistischer Polizeigewalt in der Vergangenheit auch. Warum also gerade jetzt? Wir beobachten seit dem Sommer der Migration 2015 einen großen Mobilisierungsschub in Deutschland. Viele zivilgesellschaftliche Bündnisse haben sich seither gegründet. Sie setzen sich vor allem gegen Rassismus und Ausgrenzung ein. Das hat sich bei der Unteilbar-Demonstration 2018 in Berlin mit 240.000 Teilnehmern gezeigt. Auch das #ausgehetzt-Bündnis in München und Welcome United in Hamburg brachten Zehntausende auf die Straße. Für den deutschen Kontext war das einmalig.

Dazu kommen die großen Klimastreiks von Fridays for Future, die vor allem die Jugend politisiert haben. Bei den Black-Lives-Matter-Demonstrationen in Berlin und anderen deutschen Städten liefen diese Entwicklungen zusammen: Da war eine breite zivilgesellschaftliche Allianz aus BPoCs (Black and People of Colour/Schwarze Menschen und Menschen nicht weißer Hautfarbe) und weißen, überwiegend jungen Menschen, die gemeinsam auf der Straße waren und gegen Rassismus und Ausgrenzung demonstriert haben.

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Es gehört also für die junge Generation dazu, auf die Straße zu gehen?

Es verändert sich gerade etwas. Die Mobilisierung scheint eingeübt zu sein. Wer sich einmal für ein Thema engagiert hat und auf die Straße gegangen ist, für den ist die Schwelle niedriger, auch bei der zweiten, dritten Mobilisierung für andere Themen mitzumachen. Wir beobachten auch, dass sich die demokratischen, antirassistischen, progressiven Kräfte seit 2018 immer stärker miteinander vernetzen. Die neuen Bündnisse bemühen sich zum Beispiel darum, die Zusammenhänge zwischen den großen Kernthemen deutlich zu machen und offensiver miteinander zu verknüpfen: Klima ist eine Fluchtursache, Menschen, die fliehen müssen oder auch nur anders aussehen, erleben Rassismus. Rassismus und soziale Ungleichheit lassen sich nicht getrennt voneinander betrachten. Da ist der Sprung von Fridays for Future zu Black Lives Matter dann plötzlich gar nicht mehr so groß. Außerdem sprechen wir hier von einer Generation, die Vielfalt und Diversität kennt und alltäglich erlebt. Auch in den Schulen. Sie wachsen in einer Gesellschaft auf, in der bereits ein Viertel der Menschen einen Migrationshintergrund hat. Natürlich erleben oder beobachten sie Ausgrenzung und Rassismus.

Demoforscherin Katarina Stjepandic.

Demoforscherin Katarina Stjepandic.

Was folgt daraus?

Die Sensibilisierung nimmt zu, und die Drähte zwischen den Bündnissen sind kürzer geworden, man ruft einander an, teilt die Aufrufe der anderen, mobilisiert zusammen. Fridays for Future organisieren einen Block bei der #unteilbar-Demo, und umgekehrt gab es einen “Antirassistischen Block für Klimagerechtigkeit” auf dem Klimastreik 2019 in Berlin. Diese Zusammenarbeit war ganz besonders wichtig in den vergangenen Monaten, als wegen der Corona-Einschränkungen klassische Mobilisierung nicht möglich war. Die Menschen interessierten sich plötzlich nur noch für die Pandemie. Andere Themen wie die katastrophalen Zustände in den griechischen Flüchtlingslagern erfuhren kaum mehr Aufmerksamkeit. Es war eine besondere Leistung, in dieser Zeit die Kampagne der Seebrücke #LeaveNoOneBehind so sichtbar zu machen. Das gelang unter anderem auch, weil alle diese Bündnisse zusammengearbeitet haben. Es widerstrebt mir, Corona als Chance für irgendetwas zu verstehen, aber in dieser Zeit sind zentrale Akteure näher zusammengerückt. Es könnte gut sein, dass das ihre Zusammenarbeit nachhaltig stärkt.

RND-Videoschalte: Luisa Neubauer: “Wir brauchen den Strom aus Datteln 4 nicht”

In dieser RND-Videoschalte spricht RND-Reporter Jan Sternberg mit Klimaaktivistin Luisa Neubauer – live von den Protesten vor Datteln 4.

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Im Februar erschoss Tobias R. neun Menschen mit Migrationshintergrund in Hanauer Shishabars. Warum gab es damals nicht eine Welle antirassistischer Demonstrationen?

Rassistische Gewalt hat in Deutschland eine lange Tradition. Wenn wir uns aber nur die allerjüngste Geschichte anschauen, stehen da die rassistischen Pogrome der 90er-Jahre, der NSU-Komplex, Halle und Hanau. Erst nach Hanau sprachen Politik und Medien klar von Rassismus. Es gab kurz die Hoffnung, dass sich die Debatten verändern würden. Dann kam Corona und alles verstummte. Es dauerte aber nicht lange, bis sich herausstellte, dass Corona wie ein Brennglas für gesellschaftliche Missstände funktioniert: Beispielsweise sterben in den USA schwarze Menschen überproportional häufiger an Corona als weiße, und in Deutschland wurde ein Schlaglicht auf die unmenschlichen Arbeitsbedingungen osteuropäischer Menschen in der Fleischindustrie geworfen. Es wurde erneut deutlich, wie eng die soziale Frage, Migration und Rassismus miteinander zusammenhängen. Das Unteilbar-Bündnis wird diese Zusammenhänge erneut am Sonntag auf die Straße bringen.

Es gab einzelne Ausschreitungen am Rande der Black-Lives-Matter-Demonstrationen, auch einzelne Übergriffe der Polizei. Befürchten Sie, dass die Demonstrationen gewalttätig werden?

Die überwiegende Mehrheit hat friedlich demonstriert. So ist das bei vielen Protesten, bei denen einzelne Gewaltakte die Berichterstattung bestimmen. Auch Polizeigewalt bei Demonstrationen ist in Deutschland kein Novum. Wie sich Black Lives Matter in Deutschland entwickeln wird, gilt es abzuwarten. Zwar gibt es in Deutschland eine Tradition antirassistischer Bündnisse, Protestwellen vergleichbar mit den USA, aber auch Großbritannien oder Frankreich gab es in Deutschland bislang nicht. Allerdings beobachten wir eine immer selbstbewusstere Selbstorganisation von Menschen, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht mehr länger ertragen wollen und selbstbewusst ihre Stimme erheben: von Welcome United, über die Migrantifa bis zu Black Lives Matter. Sie stoßen gerade auf sehr viel Solidarität in der Mehrheitsgesellschaft. Es spricht vieles dafür, dass diese Dynamik anhält.

Bisher ging es auf den Black-Lives-Matter-Demonstrationen darum, Trauer und Wut öffentlich zu zeigen. Konkrete politische Forderungen waren damit nicht verbunden. Bleibt das ein Strohfeuer?

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In den USA gibt es einen sehr sorgfältig ausgearbeiteten Katalog von Forderungen, den man in der Campaign Zero nachlesen kann. Darunter fällt zum Beispiel die Forderung nach unabhängigen Untersuchungen von polizeilicher Gewalt oder die Demilitarisierung der Polizei. Aber auch Trauer und Wut sind zentral. Ohne starke Emotionen, Empörung, Wut und Solidarität kommen soziale Bewegungen nicht zustande. Diese Vehemenz ist unglaublich wichtig, um eine kollektive Identität zu schaffen. Straßenproteste sind meistens nur die Spitze des Eisberges, was im Hintergrund und im Nachhinein passiert, ist oft viel wichtiger: Austausch, Vernetzung, Ressourcenaufbau, Forderungen. Selbst wenn es Black Lives Matter in Deutschland nicht gelingt, über lange Zeit große Straßenproteste zu organisieren, heißt das nicht, dass sie gescheitert sind. Im Gegenteil: In der sozialen Bewegungsforschung sprechen wir oft vom “erfolgreichen Scheitern”, was so viel bedeutet wie: Debatten wurden angestoßen, kritische und ehrliche Auseinandersetzung ist jetzt möglich. Daraus kann gesellschaftliche Veränderung entstehen.

Katarina Stjepandic ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt Universität zu Berlin und Mitglied im Institut für Protest- und Bewegungsforschung.

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