Das Merkel-Manöver: Wie die Kanzlerin das Land in den härteren Lockdown gezwungen hat
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/35Y7MCX73ZCZ3CQHZLBHOLEK6Y.jpeg)
Bundeskanzlerin Merkel bei der Verkündung der neuen Maßnahmen.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa-pool/dpa
Berlin. Sie kennen das jetzt schon. Eigentlich ist alles vorbesprochen, die Zeichen stehen auf Einigung, und dann, kurz bevor sich die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten mit Angela Merkel zusammenschalten, um das weitere Vorgehen bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie zu beraten, schlagen die neuen Vorschläge aus dem Kanzleramt ein.
So auch dieses Mal.
Einige Regierungschefs sollen regelrecht vom Glauben abgefallen sein, als sie am Montag erfuhren, was die Kanzlerin nun plötzlich forderte. Eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Menschen in Corona-Hotspots. Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner wollte Merkel den Bewegungsradius auf 15 Kilometer einschränken.
Lockdown verlängert – und noch weniger Kontakte
Das Coronavirus breitet sich weiter aus. Deshalb sollen Geschäfte länger geschlossen bleiben, private Treffen noch mehr eingeschränkt werden.
© Quelle: dpa
Das mache die Union nicht mit, hieß es aus CDU-Kreisen. Das seien wieder keine Verhandlungen auf Augenhöhe, beklagten die Sozialdemokraten. Das Wort vom „Merkel-Manöver“ machte die Runde. Die Kanzlerin presche überraschend und kurzfristig vor und düpiere damit die Länder, so die Klage.
Die Ministerpräsidenten könnten angesichts der Überrumpelungstaktik gar nicht anders, als die harten Einschränkungen abzuwehren – und dann würde Merkel am Ende wieder sagen, sie selbst habe ja schärfere Konsequenzen gewollt, aber die Länderchefs seien eben zu locker.
Doch dieses Mal lief es anders – die Kanzlerin setzte sich in weiten Teilen durch. Vielleicht auch deshalb, weil Merkel sich prominente Unterstützung aus der Wissenschaft organisiert hatte. Am Montagabend hatte Merkel per Video mit den führenden Virologen und Epidemiologen des Landes konferiert, auch die Ministerpräsidenten nahmen teil. Charité-Virologe Christian Drosten gehörte zu den Referenten, der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Institut und Viola Priesemann, Max-Planck-Institut.
Andere EU-Länder als Vorbild
Nach der Anhörung war Merkel munitioniert. Die Zahl der Neuinfektionen lasse sich nur eindämmen, wenn die Corona-Maßnahmen nicht nur verlängert, sondern auch verschärft würden, so ihre Überzeugung. Die Bewegungsfreiheit müsse eingeschränkt werden. Andere EU-Länder machten das längst.
Am Dienstagmittag hieß es aus der SPD noch, man werde allenfalls einen Beschluss mittragen, der eine Prüfung möglicher Ausgangsbeschränkungen durch die Länder vorsehe. Doch bereits am frühen Nachmittag war der Widerstand gebrochen.
Die Bundesbürger müssen nun mit Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit rechnen, wie es sie bislang nur in Sachsen oder dem europäischen Ausland gibt. Die Franzosen etwa durften sich bis Ende November wochenlang nur einen Kilometer um ihre Wohnung herum bewegen – für maximal eine Stunde täglich. Ende November wurde diese Regelung auf täglich drei Stunden und 20 Kilometer erweitert. Spanien verfuhr ähnlich.
In Deutschland wird es nicht ganz so streng – und auch nicht für alle. Auf einen Radius von 15 Kilometern um den eigenen Wohnort soll die Bewegungsfreiheit in Corona-Hotspots eingeschränkt werden. Wer einen triftigen Grund hat, etwa den Weg zur Arbeit oder Arztbesuche, darf weiter fahren. Tagestouristische Ausflüge aber stellen keinen triftigen Grund dar.
An einer wichtigen Stelle allerdings schwächten die Ministerpräsidenten den Plan der Kanzlerin ab. Merkel wollte Bewegungseinschränkungen ab einer Inzidenz von 100 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner und Woche durchsetzen, womit gut drei Viertel aller Landkreise und Städte betroffen gewesen wären. Konsensfähig aber war die scharfe Regelung am Ende nur ab einem Inzidenzwert von 200. Aktuell überschreiten 70 der insgesamt 410 Landkreise und Städte diese Grenze.
Keine Ausnahme für Kinder
Die zweite harte Maßnahme ist eine massive Verschärfung der Kontaktbegrenzung. Private Zusammenkünfte werden auf einen Haushalt mit nur einer weiteren Person von außen beschränkt. Bislang waren Treffen von maximal fünf Personen aus zwei Hausständen erlaubt. Auch die Ausnahmeregel für Kinder unter 14 Jahren fällt weg.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/ZBUMAKXIEVG55G5MXAL23UX25Y.jpg)
Die Pandemie und wir
In unserem Newsletter ordnen wir die Nachrichten der Woche, erklären die Wissenschaft und geben Tipps für das Leben in der Krise – jeden Donnerstag.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
Auf Letzteres habe die Kanzlerin vehement bestanden, heißt es aus der SPD. Für Kinder, die zu klein sind, um allein bei einer anderen Familien zu bleiben, bedeutet die Regel faktisch eine Kontaktsperre, zumal Schulen und Kitas weiter geschlossen bleiben. Lediglich für Abschlussklassen in Schulen und die Notbetreuung in Kitas gibt es Ausnahmen.
Eltern, die dadurch Betreuungsprobleme bekommen, sollen durch eine Ausweitung des Kinderkrankengeldes auf zehn zusätzliche Tage pro Elternteil und 20 Tage für Alleinerziehende entlastet werden. Der Anspruch soll nicht nur für die Betreuung kranker Kinder gewährt werden, sondern auch gelten, wenn Schule oder Kita wegen der Pandemie geschlossen bleiben oder die Präsenzpflicht ausgesetzt ist.
Die Maßnahmen seien „hart, aber notwendig“, räumte Merkel bei der Pressekonferenz im Anschluss an die Schalte ein. „Wir sehen uns dazu genötigt, um unser Ziel, die Infektionszahlen deutlich herunterzubringen, nicht aus den Augen zu verlieren.“
Die nach wie vor hohen Fallzahlen und die im Ausland bekannt gewordenen Fälle einer Mutation des Virus beunruhigen die Kanzlerin. Dadurch sei eine „neue und besondere Lage“ entstanden, sagte sie.
Mit strengeren Einreisebedingungen wollen Bund und Länder verhindern, dass die Mutationen auf Deutschland übergreifen. Bei Einreisen aus Risikogebieten soll eine grundsätzliche Testpflicht eingeführt werden, und zwar zusätzlich zu der zehntägigen Quarantänepflicht, die nach fünf Tagen beendet werden kann, wenn ein zweiter negativer Test vorliegt. „Zwei-Test-Strategie“ nennt Merkel das.
Es sei „optimistisch zu glauben“, dass sich das mutierte Virus in Deutschland nicht durchsetze, sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Wenn es so weit sei, werde es noch ganz andere Maßnahmen geben müssen. Welche, sagte er nicht.
Der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD), sprach von einer „schweren Ministerpräsidentenrunde“. Es sei schwer, Freiheitsrechte einzuschränken. „Auch ein kompletter Lockdown wäre kein Königsweg“, sagte Müller.
CSU-Chef Söder hielt dagegen. Die Konferenz sei nicht schwer, sondern „ehrlich“ gewesen. Und deswegen würden auch keine Versprechungen gemacht, dass am 1. Februar wieder alles gut sei. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow beschrieb die Beratungen als „sehr konzentriert und kollegial“.
Merkel droht, „auszupacken“
Allerdings sollen während der fast fünfstündigen Sitzung, deren Beginn mehrfach nach hinten verschoben worden war, auch ordentlich die Fetzen geflogen sein. Vor allem der schleppende Impfstart und die Kritik der SPD daran sorgten für Ärger. Merkel persönlich soll Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in Schutz genommen und gewarnt haben, dass sie ja auch einmal über all die Fehler „auspacken“ könnte, die in solchen Runden gemacht würden.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) begrüßte den verlängerten Lockdown. „Mit der Entscheidung wird den hohen Infektionszahlen auch an Bildungseinrichtungen, den vielen Todesfällen und einer möglichen zusätzlichen Bedrohung durch Mutationen des Coronavirus Rechnung getragen“, sagte GEW-Chefin Marlis Tepe dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Gleichzeitig warnte sie, die Schulen seien noch immer nicht coronafest. „Bis heute gibt es keine flächendeckende Versorgung der Lehrenden und Lernenden mit digitalen Endgeräten, es mangelt an stabilem, schnellem WLAN“, so Tepe. „Die Kultusminister und -ministerinnen haben ihre Hausaufgaben noch nicht erledigt.“
Wie entsteht ein Impfstoff?
Nach einem Impfstoff gegen Covid-19 wird unnachgiebig geforscht. Innerhalb von nur einem Jahr war bereits der erste Kandidat in der Zulassungsphase.
Die SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans forderten zusätzliche Anstrengungen in der digitalen Bildung. „Es muss jetzt sichergestellt werden, dass alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland ein verlässliches, digital gestütztes Bildungsangebot erhalten“, schrieben die beiden SPD-Chefs in einem gemeinsamen Statement für das RND. „Es ist die Aufgabe unseres Bildungssystems, dass die Bildungschancen durch Corona nicht weiter auseinanderdriften.“
Die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz bezeichneten beide als richtig. „Die Situation in der Pandemiebekämpfung bleibt sehr ernst. Die Wissenschaft hat uns angesichts dieser Lage nicht nur zur Verlängerung, sondern auch zur Verschärfung des Shutdowns geraten – auch angesichts der neuen, offenbar hochansteckenden Mutation des Virus.“
Ob diese Maßnahmen allerdings ausreichen werden, um dessen Ausbreitung in Deutschland zu verhindern, das gehört zu den großen Ungewissheiten, mit denen in Deutschland dieses Jahr beginnt. Sicher scheint derzeit nur die nächste Ministerpräsidentenkonferenz. Die findet am 25. Januar statt.
RND