Das ist der Mann, der die Stolpersteine macht

Michael Friedrichs-Friedländer stellt in seiner Werkstatt in Berlin-Französisch Buchholz die Stolpersteine her.

Michael Friedrichs-Friedländer stellt in seiner Werkstatt in Berlin-Französisch Buchholz die Stolpersteine her.

Berlin. Der dicke Brief aus Köln im DIN-A4-Format kommt wie immer am Monatsende. Michael Friedrichs-Friedlaender trägt ihn in seine Werkstatt und legt ihn auf seinen Pausentisch. Dann greift er sich seinen Tabak, ein Blättchen Papier, dreht sich eine Zigarette und zündet sie an. Vorsichtig öffnet er den Briefumschlag.

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Darin stecken sie, viele, viele Seiten Papier. Darauf stehen Familiennamen wie Friedmann, Brune, Luicke, Stoffel, Brauckmann, Cohn, Wassermann oder Menne. Hunderte Namen. Und Orte: Theresienstadt, Heilanstalt Weilmünster, Majdanek, Heilanstalt Hadamar, Auschwitz, Minsk, Mauthausen, Belcek, Sachsenhausen. Und Schicksale: Deportiert, gefoltert, Zwangsarbeit, Flucht in den Tod, überlebt, ermordet.

Friedrichs-Friedlaender nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, dann drückt er sie im Aschenbecher aus. Die Seiten lässt er vorsichtig wieder in den Umschlag gleiten und legt ihn unter einen anderen auf der Werkbank. Der ist – bis auf ein paar Blätter – nahezu leer. Friedrichs-Friedlaender hat sein Pensum für diesen Monat fast erfüllt.

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Erster Stolperstein wurde 1992 verlegt

Am Nordost-Rand Berlins, in Französisch Buchholz, fertigt der Metallkünstler die Stolpersteine zur Erinnerung an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors. Die in Gehwegen vor den letzten frei gewählten Wohnadressen der NS-Opfer eingelassenen Betonwürfel mit der Kantenlänge von knapp zehn Zentimetern und der markanten Messingkappe sind das – inzwischen urheberrechtlich geschützte – Projekt des Kölner Installationskünstlers Gunter Demnig.

Der heute 71-Jährige hatte am 16. Dezember 1992 seinen ersten Stolperstein vor dem Rathaus seiner Heimatstadt verlegt. Es war der 50. Jahrestag des Himmler-Befehls zur Deportation der Sinti und Roma in Vernichtungslager.

Zunächst verfolgte Demnig nur theoretisch den Plan mit den Stolpersteinen, schließlich gab es europaweit 15 bis 20 Millionen Opfer der Nazis. Doch die Idee, einen kleinen Stein in den Boden einzulassen, über den die Menschen sich beugen, vor dem sie sich verbeugen oder verneigen müssen, wenn sie lesen wollen, fanden viele Unterstützer überzeugend.

Heute liegen die Steine in mehr als 1200 deutschen Städten und Gemeinden sowie in 24 europäischen Ländern. Sie machen keinen Unterschied zwischen den Opfern. Sie erinnern an Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma, Kommunisten, Widerstandskämpfer, Euthanasie-Opfer oder Zeugen Jehovas.

Weltweit größtes Mahnmal für NS-Opfer

Demnig selbst hat mehr als 70 000 Steine verlegt. Dafür ist der Mann mit dem markanten Hut auf dem Kopf stets unterwegs. "Ich werde die Steine noch im Rollator mit dem Hammer verlegen", sagt er. Aber alle Bitten und Aufträge allein zu erfüllen, das schafft Demnig schon lange nicht mehr. Friedrichs-Friedlaender stellt die Steine her, Demnig verlegt sie. Seine Idee ist zum weltweit größten, täglich wachsenden Mahnmal für die Opfer des Holocaust geworden.

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Der Kölner Künstler Gunter Demnig im August letzten Jahres in Chemnitz.

Der Kölner Künstler Gunter Demnig im August letzten Jahres in Chemnitz.

Nicht alle finden das gut. Immer wieder werden Steine herausgerissen, besudelt oder gestohlen – aus Übermut oder auch aus politischen Gründen. Darauf weist Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, unermüdlich hin. Die Opfer, beklagt Knobloch, würden ein zweites Mal entwürdigt, wenn man sie sprichwörtlich mit Füßen treten könne.

Intensive Auseinandersetzung mit NS-Zeit

Josef Schuster sieht die Steine positiv. Der Präsident des Zentralrats der Juden beobachtet gern Passanten vor dem "Kaufhof" seiner Heimatstadt Würzburg, wenn sie abrupt vor Stolpersteinen halten, die an die früheren jüdischen Kaufhausbesitzer Ruschkewitz erinnern. Schuster findet, dass Demnig es den Menschen nicht einfach mache. "Wer einen Stolperstein verlegen lassen möchte, wird Pate dieses Steins und muss selbst nachforschen: Wer wohnte in meinem Haus? Wohin wurden die Menschen verschleppt? Wie wurden sie ermordet? Gibt es noch Angehörige?"

Durch diese Recherchen, ist Schuster überzeugt, fände eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit statt, wie sie intensiver kaum vorstellbar sei. „Auch für Schulklassen ist das eine hervorragende Möglichkeit, um sich sehr anschaulich mit der Geschichte zu befassen. Jeder einzelne Stein offenbart ein Schicksal.“

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Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland: „Jeder Stein ein Schicksal.“

Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland: „Jeder Stein ein Schicksal.“

Zwischenzeitlich gab es auch Stimmen, die Demnig ein „Millionen-Geschäft“ mit den Millionen NS-Opfern unterstellten. Ein Stein kostet den Auftraggeber 120 Euro. Davon werden Material, Werkzeug, Versand, Organisation und insgesamt acht Mitarbeiter des Projekts bezahlt. „Reibach macht hier niemand“, brummt Friedrichs-Friedlaender und klopft ein Blech gerade. Knapp die Hälfte des Geldes lande bei ihm und seinen beiden Mitarbeitern.

„Es müssen mehr widersprechen“

In dem 68-Jährigen hat Demnig vor knapp 14 Jahren einen Bruder im Geiste gefunden. Der Berliner gab seine künstlerischen Ambitionen völlig auf, um von Sonntag bis Freitag die Steine zu fertigen. Seine Werke verstauben unter den Werkbänken. "Manchmal tut's noch weh", bekennt Friedrichs-Friedlaender. "Aber ich habe mich nun einmal entschieden – die Stolpersteine sind meine Lebensaufgabe."

Michael Friedrichs-Friedlaender: „Wenn ein Herr Gauland die NS-Zeit als Fliegenschiss bezeichnet, müssen mehr widersprechen.“

Michael Friedrichs-Friedlaender: „Wenn ein Herr Gauland die NS-Zeit als Fliegenschiss bezeichnet, müssen mehr widersprechen.“

Für ihn ist es auch ein Kampf gegen Hass, Lüge und Hetze, die sich erneut in der Welt breit zumachen drohen, sagt er. „Wenn ein Herr Gauland die NS-Zeit als Fliegenschiss bezeichnet, müssen mehr widersprechen.“ Er tritt an die Werkbank, setzt sich Hörschutz und Brille auf. Hinter dem eingespannten Messingblech steht ein Pult mit den in zwei Fächern verteilten Buchstaben-Eisen und einem wie im Notenständer befestigten Zettel aus dem dicken Briefumschlag von Demnig. Darauf steht der Text, den Friedrichs-Friedlaender nun auf den Stolperstein übertragen wird.

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Er beginnt mit HIER WOHNTE, dann folgt der Name, der Jahrgang, das Jahr der Deportation oder der Flucht, der letzte Aufenthaltsort, das Ende. Wenige Zeilen nur, die kein ganzes Leben beschreiben können, dafür jedoch die Willkür, die diesen Menschen angetan wurde.

Durch die Mitte des Textes verläuft ein vertikaler Strich, der sich auch auf dem Messingblech im Schraubstock wiederfindet. Friedrichs-Friedlaender greift mit der linken Hand einen Metallstempel, setzt den Buchstaben H an und schlägt ihn als ersten des Namens mit dem Hammer in seiner Rechten ein. Peng. Dann greift er den nächsten Stift, ein C. Ein Schlag, peng! Dann ein I. Und so geht es weiter. Er „schreibt“ von der Mitte des Blechs nach links außen, anschließend nach rechts. Am Ende steht der Name mittig auf dem Blech, HEINRICH BRUNE – so wie der ganze Textblock, der einen Teil seiner Geschichte erzählt:

JG. 1903

IM WIDERSTAND / KPD

„SCHUTZHAFT“ 1933

BERGKAMEN-SCHÖNHAUSEN

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1933 BÖRGERMOOR

MISSHANDELT

ENTLASSEN / ARBEITSUNFÄHIG

„Schutzhaft“, knurrt Friedrichs-Friedlaender. „Unbeschreiblich, was sie den Leuten angetan haben. Grauenhaft.“

Das geschlagene Messingblech für den Widerstandskämpfer Heinrich Brune.

Das geschlagene Messingblech für den Widerstandskämpfer Heinrich Brune.

Seit 50 Jahren liest der geborene Münchener alles über den Nationalsozialismus und wie er entstehen konnte, die Lager, die Opfer, die Prozesse. „Mit 17 haben wir Fragen gestellt und keine Antworten bekommen. Von Lehrern nicht, von Eltern nicht. Das ging auch den Kindern der Überlebenden so. Wir sind die Generation der unbeantworteten Fragen.“

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Jeden Monat 500 Stolpersteine

Das Metallblech kantet der Künstler nun links und rechts des Textblocks ab, schneidet daraus Schwalbenschwänze, die später als Anker im Beton dienen, dann rundet er die Ecken. Sind 28 Bleche zusammen, kommen sie in die beiden jeweils 14 Würfel fassenden Formen und werden mit Beton ausgegossen. Nach einer Nacht ist er ausgehärtet, die Steine werden Korrektur gelesen und poliert. Im Monat entstehen so aus zehn Quadratmetern Messingblech und einer Tonne Beton an die 500 Stolpersteine.

Wenn der Mann in Jeans und schwarzem T-Shirt mit Metallstift und Hammer auch gegen das eigene Grauen anarbeitet, stößt er bis an seine Grenzen. Zum Beispiel als er Steine vor einem ehemaligen Hamburger Waisenhaus herstellte. 34 für Kinder, drei für Erzieher. Alle auf einmal weg. „Hinterher war ich fertig“, erzählt er und bekommt feuchte Augen. „Anstrengend sind nicht die Hammerschläge, sondern die Schicksale. Da laufen im Kopf Filme ab – und die sind nicht schön.“

Macht diese Arbeit schwermütig? „Nein, mich nicht“, sagt er und legt den Hammer beiseite. „Nach Feierabend gehe ich noch zwei Stunden spazieren oder ich erledige den Einkauf.“ Er bringe nichts aus der Werkstatt mit ins Haus zu Frau und 14-jähriger Tochter. „Man darf sich nicht bedauern. Wir sind nicht dafür verantwortlich, was die Nazis angerichtet haben. Aber wir tragen dafür Verantwortung, was wir aus der Geschichte machen. Ich nehme sie wahr, indem ich an die Menschen erinnere, denen Unrecht angetan wurde.“

Friedrichs-Friedlaender, der sich bewusst im Hintergrund des Demnig-Projekts hält, bekommt manchmal Werkstattbesuch von Schulklassen oder Nachkommen der Menschen, deren Namen er in das Metall schlägt. „Eine Frau Friedlaender kam extra aus Israel hier zu mir, um zu erfahren, ob wir verwandt sind. Waren wir nicht, gut verstanden haben wir uns jedoch.“

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In solchen Momenten tankt ein Mann wie Friedrichs-Friedlaender auf. Viel Zeit nimmt er sich dafür jedoch nicht, er greift wieder zum Hammer. „Ich muss fertig werden, egal wie lange ich brauche“, sagt er. Wenn die Angehörigen von überall her anreisten, müssen die Steine an Ort und Stelle sein.

Bevor er mit dem Hammer zuschlägt, dreht er sich noch einmal um und fragt: „Wissen Sie, wie alt ich werden müsste, um für alle Gefangenen oder Toten von damals einen Stein zu machen? Ich sag’s Ihnen: 2500 Jahre.“

Von Thoralf Cleven/RND

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