Das Gute nach der bösen Tat
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„Wir sind hier eine große Familie geworden“: Oberbürgermeister Claus Kaminsky bei einer Veranstaltung in Hanau.
© Quelle: imago images/Patrick Scheiber
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
es ist ein Datum, das sich schmerzlich ins Gedächtnis eingebrannt hat: Am 19. Februar 2020 erschoss der Deutsche Tobias Rathjen in Hanau nacheinander neun Menschen in einer Shishabar und in einem Kiosk. Alle Opfer haben einen Migrationshintergrund.
Viele Menschen in ganz Deutschland waren damals wie gelähmt vor Angst: Beginnt jetzt, nach einer Reihe rechtsradikaler Anschläge, etwa vom NSU, das ganz große Morden auf offener Straße? Ohne Plan, ohne besondere Tücke, einfach im Vorbeigehen, mit Dauerfeuer?
Es gab in jenen Tagen nicht weiße Männer und Frauen in Deutschland, die sich angesichts der Nachrichten aus Hanau fühlten, als öffne sich für sie gerade eine Art Falltür. Verzweifelt fragte eine junge Mutter, wie sie eines Tages ihren noch ungeborenen Sohn schützen könne vor solchem mörderischen Rassismus.
Die Halteseile der Gesellschaft
Heute, ein Jahr später, ist vom Bösen und Verstörenden dieser Tat nichts abzustreichen. Aber immerhin hat sich danach hier und da auch Gutes entwickelt. Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund sind einander etwas nähergekommen, auch emotional.
In Hanau selbst hat Bürgermeister Claus Kaminsky dazu viel beigetragen, ein pragmatischer Sozialdemokrat der alten Schule, der nicht lange theoretisiert, sondern fragt, wo man helfen kann. Am morgigen Freitag wird zum Gedenken auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anreisen. Die damit verbundenen Botschaften sind klar: Diese Tat, so schlimm sie war, soll um Himmels willen die Halteseile dieser Gesellschaft nicht zerreißen.
Dass auch Journalisten nach einem Ereignis wie in Hanau mit Hinterbliebenen reden, finden manche Leser auf den ersten Blick makaber. In der Tat müssen Medien an dieser Stelle extrem vorsichtig sein, das gebietet der Respekt vor der Menschenwürde.
In den Achtzigerjahren kam unter Boulevardjournalisten die abscheuliche Praxis auf, unter Anwendung von allerlei Tricks Angehörige von Unfallopfern aufzuspüren, um deren Leid für Geschichten auszunutzen oder ihnen private Fotos zu entwinden. Dieses hoch problematische Vorgehen ist in der Medienbranche unvergessen.
Eine redliche, respektvolle Begegnung
Als RND-Chefreporter Thorsten Fuchs jetzt mit Hinterbliebenen der Tat von Hanau zusammensaß, schon zum zweiten Mal, ging es um etwas ganz anderes: eine redliche, respektvolle Begegnung. Ein solches Gespräch fordert Kraft – kann aber einen sehr guten Sinn haben, weil es Authentizität schafft und Verständnis. Nichts daran ist unfreiwillig. #Saytheirnames heißt ein heute wie vor einem Jahr aktueller Hashtag auf Twitter: Die Betroffenen wollen, dass man an die Toten erinnert – und ihre Namen nennt.
Der 46 Jahre alte Hanauer Cetin Gültekin hat ein T-Shirt, das ein Porträt seines ermordeten Bruders zeigt. „Manchmal trägt er das T-Shirt auch nachts“, schreibt Fuchs in seiner Reportage aus Hanau und zitiert dann seinen Gesprächspartner: „Es lässt mich ihm nah sein.“
Gültekin beschreibt nicht nur sein Leid. Er lobt auch ein gewachsenes Miteinander von Hinterbliebenen, Nachbarn und Freunden in Hanau: „Wir sind hier eine große Familie geworden.“
Reportagen wie diese können, indem sie die komplexen Gefühlslagen konkret Betroffener vor Ort beschreiben, vielleicht auch bei etwas ganz Großem helfen: den Zusammenhalt in Deutschland zu bewahren.
Zitat des Tages
Es freut mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass wir der Weltgesundheitsorganisation bis Ende dieses Monats 200 Millionen US-Dollar überweisen werden, auch als Ausgleich für ausstehende Zahlungen.
Antony Blinken, Außenminister der USA,
am Mittwoch in einer Sitzung der Vereinten Nationen. Die Trump-Regierung hatte zuletzt Zahlungen verweigert und ihren Austritt erklärt.
Leseempfehlungen
Die dritte deutsche Welle: Neue Daten des Robert-Koch-Instituts zeigen, dass sich die britische Virusvariante B 1.1.7 in den letzten zwei Wochen in Deutschland weiter ausgebreitet hat – womöglich sogar exponentiell. Mathematiker rechnen deshalb damit, dass ab März die Infektionszahlen trotz Lockdown und Corona-Maßnahmen wieder steigen könnten.
„Sterblichkeit hinnehmen“? Deutschlands Ökonomen streiten weiterhin darüber, wie eine wirtschaftlich sinnvolle Strategie gegen das Coronavirus aussehen kann. Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts für Wirtschaft, sagt nun klar: „Ein gewisses Gesundheitsrisiko und leider auch eine gewisse Sterblichkeit“ müsse die Gesellschaft „hinnehmen, um dauerhaft zur Normalität zurückkehren zu können“.
Corona-Leugner in Schwierigkeiten: Der Schauspieler Mustafa Alin („Gute Zeiten, schlechte Zeiten“), auch als Corona-Leugner bundesweit bekannt, hat Probleme mit der Justiz. Ende November soll er unter Vortäuschung einer Verletzung in eine Klinik in Hannover eingedrungen sein, um dort zu filmen: Mit Aufnahmen von leeren Fluren habe er die Pandemie verharmlosen wollen, heißt es. Die Staatsanwaltschaft prüft diesen und weitere Vorwürfe.
Aus unserem Netzwerk: Ein Wert für jedes Haus
Das ist neu: Ein Internetportal zeigt zu eingegebenen Adressen nicht nur das Satellitenbild, sondern liefert auch gleich den geschätzten Preis der dort befindlichen Immobilien. Einige Experten sehen das Angebot namens Scoperty jedoch skeptisch, wie die „Lübecker Nachrichten“ berichten.
Termine des Tages
In einer Videokonferenz spricht heute ab 11 Uhr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Ärzten und Vertretern des Pflegepersonals über die Lage im Gesundheitswesen in Sachsen. Mit „Regionalgesprächen“ dieser Art will der Bundespräsident die in der Pandemie besonders Engagierten würdigen und mit ihnen in einen Austausch treten.
Bundesinnenminister Horst Seehofer informiert sich um 13 Uhr an der deutsch-tschechischen Grenze über die Grenzkontrollen an der A 17 (Dresden–Prag).
In Rom stellt sich der neue Ministerpräsident Mario Draghi heute einer Vertrauensabstimmung in der Abgeordnetenkammer.
US-Präsident Joe Biden besucht heute die Impfstofffabrik des US-Konzerns Pfizer in Kalamazoo, Michigan.
Wer heute wichtig wird
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Der Däne Jens Stoltenberg (61), Nato-Generalsekretär seit 2014, hat es geschafft: Alle Staaten der westlichen Allianz stellen sich wieder voller Respekt hinter ihn – nach vier wirren Jahren mit Donald Trump. Heute ist Stoltenberg Gastgeber des zweiten und letzten Tages der Nato-Verteidigungsministerkonferenz. Klarheit über künftige Konzepte gibt es noch nicht, aber immerhin Klarheit über den Zusammenhalt. Über Afghanistan etwa sagt Stoltenberg: Egal ob die Nato reingehe oder rausgehe – „wir tun es zusammen, und zwar zu gegebener Zeit“.
© Quelle: Olivier Hoslet/Pool EPA/AP/dpa
Der Podcast des Tages
Die neue Folge ist da! Im Podcast „Staat, Sex, Amen“ sprechen Kristian Teetz und Imre Grimm diesmal über Verantwortung im People-Journalismus, die Arroganz des FC Hollywood, das Verhältnis der Grünen zu Immobilieneigentum und die Frage, ob vertikale Karnevalsumzüge nicht viel ressourcenschonender wären. Viel Spaß beim Hören!
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