Schriller, schlechter, unsachlicher – die Bürgergelddebatte
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Auf einer Sondersitzung des Bundesrats wurde am 14. November der aktuelle Entwurf des Bürgergelds abgelehnt.
© Quelle: IMAGO/Christian Spicker
Liebe Leserin, lieber Leser,
haben Sie bei der Debatte um das Bürgergeld noch den Eindruck, dass es um Sachfragen geht? Also wird politisch darum gerungen, wie man bedürftigen Menschen ein Leben in Würde ermöglicht und zugleich den Sozialstaat und jene, die ihn finanzieren, nicht überfordert? Leider steht diese zentrale Frage im Schatten einer politischen Schlacht, die immer lauter und polemischer wird – in der die Argumente aber nicht besser werden. Man könnte an das Sprichwort erinnern, das man Kindern gern sagt: „Wer schreit, hat unrecht.“
Der Reihe nach: Das ganze Hartz-IV-System ist in der SPD schon seit seiner Einführung etwa so beliebt wie ein dicker Pickel im Gesicht. Einige Härten des Systems wurden übrigens über die Jahre bereits reformiert. Beispielsweise wurden die Zeiten ausgeweitet, bevor man überhaupt vom Arbeitslosengeld I ins Arbeitslosengeld II, sprich Hartz IV, fällt. Für Kinder gibt es mit dem Schulstarterpaket und für Freizeitsport inzwischen etwas mehr Unterstützung.
Im Bund mit der Union konnten sich die Sozialdemokraten aber nicht durchsetzen, das System von Grund auf zu reformieren. Denn CDU und CSU halten die einst von SPD-Kanzler Gerhard Schröder durchgeboxten Hartz-Reformen für die wesentliche Grundlage des deutschen Jobwunders. Das ist auch richtig. Allerdings ist zu bezweifeln, dass die damals neu geschaffene Sozialhilfe Hartz IV maßgeblich das Jobwunder bewirkt hat.
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Der damalige Kanzler Gerhard Schröder (rechts) stellte 2003 die Agenda 2010 vor, ein Reformpaket, das auch Hartz IV umfasste.
© Quelle: picture alliance / ASSOCIATED PR
Vielmehr waren es der durch die Hartz-Reformen entstandene Niedriglohnsektor, die Möglichkeiten zur Scheinselbstständigkeit, die hohen Exportzahlen und die niedrigen Energiepreise, die zur brummenden Wirtschaft und zum boomenden Arbeitsmarkt geführt haben. Geblieben ist ein Sockel von rund zwei Millionen Langzeitarbeitslosen (Kinder rausgerechnet), die trotz zahlreicher offener Stellen und vorhandener finanzieller Hilfen zur Arbeitsmarktintegration über Jahre nicht in bezahlte Arbeit vermittelt werden konnten. An diesem Befund müsste eine Reform des Hartz-Systems beherzt ansetzen.
Hinter der Zahl von zwei Millionen stecken individuelle Schicksale. Eine alleinerziehende Mutter braucht im Zweifel mehr finanzielle Hilfen, damit sie ihren drei Kindern Zukunftschancen eröffnen kann. Ein Jugendlicher, der Termine im Jobcenter schwänzt, keine Lust mehr hat, zur Schule zu gehen, und angebotene Ausbildungsplätze oder Jobgelegenheiten nicht annimmt, den muss man mit Sanktionen belegen. Die geschiedene Mittfünfzigerin, die jahrelang nur einen Minijob gemacht hat und deren Kinder aus dem Haus sind, braucht im Zweifel eine Weiterbildung. Und ob man der 60-jährigen Fachkraft einen Gefallen damit tut, dass sie sich mit Bürgergeld, Schonvermögen und Wohnungsgarantie bis zur Rente durchhangeln kann, sei dahingestellt. Der Arbeitsmarkt könnte so jemanden jedenfalls noch gebrauchen.
Und was machen Regierung und Opposition? Sie hauen sich gegenseitig Schlagworte um die Ohren. Die Union spricht von „Pullfaktoren“ und entwirft ein Schreckensszenario, als wollten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen millionenfach ihre Jobs aufgeben und unter den Schutzschirm des Bürgergelds schlüpfen. SPD und Grüne wiederum unterstellen der Union Fake News, soziale Kälte und das Ausspielen von Langzeitarbeitslosen gegen Geringverdiener. Diese öffentliche Debatte ist von großer intellektueller Dürftigkeit und leistet nur der Politikverdrossenheit Vorschub.
Ministerpräsident Markus Söder: Bürgergeld ist sozial ungerecht und unfair
Vor der Bundesratssitzung zum Bürgergeld hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder seine Kritik bekräftigt und eine grundsätzliche Überarbeitung gefordert.
© Quelle: dpa
Besser wäre es, wenn die Ampelparteien und die Union darüber nachdenken würden, wie die Milliarden, die ins künftige Bürgergeld fließen sollen, zielgenauer eingesetzt werden können. Dass dies im Vermittlungsausschuss gelingt, der kommende Woche seine Arbeit aufnehmen soll, ist eher unwahrscheinlich. Dort wird das unredliche Geschachere mit polemischen Argumenten weitergehen, und am Ende wird irgendein Kompromiss stehen, der die Probleme nicht bei der Wurzel packt. Immerhin sind sich alle einig, dass in Zeiten dieser Inflation der Regelsatz um gut 50 Euro steigen muss. Man kann nur hoffen, dass sich beide Seiten auf klare Kriterien verständigen, mit denen die Wirkung des Bürgergelds spätestens nach zwei Jahren bilanziert wird.
Kriegsrhetorik
Es war keine gezielte Rakete, die auf Polen gerichtet war.
Andrzej Duda,
polnischer Präsident
Die besonnene Reaktion der Nato-Staaten auf den Raketeneinschlag in Polen war ein weiterer Beweis dafür, dass der Westen die Ukraine zwar in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Invasion unterstützt, aber zugleich eine Eskalation dieses Kriegs auf Nato-Gebiet verhindern möchte. Ruhig und schnell hat der Westen den Rest der Welt darüber informiert, dass die Rakete wohl nicht von Russland abgefeuert wurde. Vielmehr soll es sich um eine Flugabwehrrakete der Ukraine aus russischer Produktion handeln. Sie soll in den 70er-Jahren hergestellt worden sein. Damals herrschte der Kalte Krieg und die Ukraine war Teil des kommunistischen Sowjetreichs. Zwei Menschen wurden am Dienstag durch die Rakete im ostpolnischen Dorf Przewodow sechs Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt getötet.
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Andrzej Duda, Präsident von Polen.
© Quelle: Pawel Supernak/PAP/dpa
Wie Demoskopen auf die Lage schauen
Noch einmal zum Bürgergeld: Etwas mehr als die Hälfte (54 Prozent) der Bürgerinnen und Bürger meint, dass durch das geplante Bürgergeld Arbeitslose besser gestellt werden als Erwerbstätige mit geringem Einkommen. Im Osten (69 Prozent) glauben das mehr Menschen als im Westen (52). In der Gruppe mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 2500 bis 4000 Euro ist diese Annahme mit 58 Prozent am größten. Von den Menschen mit 2500 Euro monatlich oder weniger glauben dies 56 Prozent. In der höchsten Einkommensgruppe von 4000 Euro oder mehr gehen laut Forsa 52 Prozent davon aus, dass Bürgergeldempfänger und ‑empfängerinnen künftig besser gestellt sein werden als Geringverdiener und ‑verdienerinnen. Ähnlich verteilen sich die Ansichten zur These, es komme häufig vor, dass jemand aus Bequemlichkeit Arbeitslosengeld beziehe, obwohl er arbeiten könnte. Dies meinen der Forsa-Umfrage zufolge bundesweit 55 Prozent. Im Osten sind es 68 Prozent, im Westen 52.
In der Sonntagsfrage sind die Grünen an der SPD vorbeigezogen:
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Die Sonntagsfrage von Forsa.
© Quelle: Forsa
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