Darum scheiterten Städte am kostenlosen Nahverkehr
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Wegen schlechter Luft in den Städten: Die Bundesregierung erwägt einen kostenlosen Nahverkehr.
© Quelle: dpa
Berlin. Es ist ein überraschender und öffentlichkeitswirksamer Vorstoß in der Debatte über bessere Luft in abgasgeplagten Städten. Die Bundesregierung erwägt, Länder und Kommunen finanziell zu unterstützen, wenn diese einen kostenlosen Nahverkehr einführen. Doch die Idee ist nicht neu. Schon mehrfach wurde ein kostenloser Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) getestet – auch in Deutschland.
Brandenburg als Vorreiter
Ende der 90er Jahre wurde in der 16.000-Einwohner-Stadt Templin in Brandenburg das Experiment gewagt. Nach nur fünf Jahren musste es jedoch wieder eingestellt werden. Die Fahrgastzahlen explodierten. In den folgenden Jahren stieg das Passagieraufkommen um fast das Zehnfache, das war zu viel für die Stadt.
Parallel zu den fehlenden Ticketeinnahmen stiegen die Betriebskosten. Auf Dauer wurde Templin der Versuch des Gratis-Nahverkehrs zu teuer, 2003 wurde das Projekt eingestellt. Auch die Spreewaldstadt Lübben verbannte zeitweise die Fahrscheine.
Projekte scheitern auch in Belgien und den USA
Auch in der belgischen Stadt Hasselt scheiterte das 1997 gestartete Experiment am Ende an den Kosten. 2013 wurde es eingestellt, heute dürfen von den insgesamt 60.000 Einwohnern nur noch Senioren, Kinder und Jugendlichen gratis fahren.
In den USA waren zwei Städte an der Ostküste Vorreiter: Portland und Seattle. Auch dort wurden Versuche für einen kostenlosen Nahverkehr gestartet – und wieder abgebrochen, nach jeweils fast 40 Jahren. Anlass in Portland war eine Finanzierungslücke. Doch schon vorher hatte es Probleme gegeben, weil Busse wegen vieler Kurzstreckenfahrgäste langsamer vorankamen und Passagiere ohne Ticket in die Außenbezirke weiterfuhren. Auch die Millionenmetropole Seattle stellte die Gratisfahrten nach Finanzierungsproblemen ein.
Tallinn bislang erfolgreich
Als erste europäische Hauptstadt begann das estnische Tallinn vor fünf Jahren ein Experiment mit fahrscheinlosem ÖPNV für die Bewohner. In einem Referendum haben die Bürger dafür gestimmt. Die Einführung scheint bislang ein Erfolg zu sein für die 450.000-Einwohner-Stadt. Tallinn finanzierte den Ausbau des Transportsystems aus Steuereinnahmen. Geld spülten dabei auch jene Menschen in die Stadtkassen, die zuvor aus dem Umland in die Stadt pendelten und mit Aussicht auf den kostenlosen Nahverkehr nach Tallinn zogen.
Das waren allein im ersten Jahr der Einführung elf Millionen Euro. Zuvor hatten die Bürger jährlich rund zwölf Millionen Euro für öffentliche Verkehrsmittel gezahlt. Dieser Ausfall konnte also nahezu kompensiert werden. Die Stadtverwaltung berichtet in einem Report vom April 2017, dass die Tallinner Transportgesellschaft im Jahr 2016 einen Gewinn von 13,7 Millionen Euro machte.
Finanzierung in Deutschland völlig unklar
Nach dem aktuellen Vorstoß der deutschen Politik ist die Finanzierung hierzulande bisher noch völlig unklar. Falls Städte einen kostenlosen ÖPNV organisieren würden, würde dies Milliarden kosten. Allein in Hamburg erziele der städtische Verkehrsverbund HVV durch Fahrscheinverkäufe jährlich rund 830 Millionen Euro, so ein Sprecher. „Das ist in etwa eine „Elphi“ pro Jahr.“ Diese Mittel müssten bei einem Gratis-Angebot zusätzlich vom Steuerzahler aufgebracht werden.
Und wer zahlt? Der Städtetag hat den Bund bereits an das Prinzip erinnert: „Wer bestellt, bezahlt.“ Völlig unklar ist auch, ob das Ganze überhaupt umsetzbar wäre. Denn Busse und Bahnen sind vor allem in Großstädten schon überfüllt, bei kostenlosen Tickets würden sie vermutlich noch voller. Der gesamte ÖPNV müsste massiv ausgebaut werden, mit modernen und umweltfreundlichen Bussen und Bahnen – das aber dauert Jahre.
„Wir sehen das auch sehr kritisch“, sagte eine Sprecherin des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen. Mit rund zwölf Milliarden Euro jährlich finanzierten sich die Verkehrsbetriebe etwa zur Hälfte aus dem Ticketverkauf. „Das müsste am Ende der Steuerzahler finanzieren.“ Weitere Milliarden wären nötig für neue Busse, Bahnen und Personal. Denn: „Wir hätten bei einem kostenlosen Angebot einen enormen Fahrgastzuwachs.“
Von Jan Dresing/RND/dpa