„Unser Alltag ist monoton“

Dario Schramm: Die Stimme der Generation Corona rechnet mit dem Bildungssystem ab

Der frühere Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, Dario Schramm, hat ein Buch über die Schwächen des deutschen Bildungssystems geschrieben.

Der frühere Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, Dario Schramm, hat ein Buch über die Schwächen des deutschen Bildungssystems geschrieben.

Berlin. Plötzlich freuen sich junge Menschen über Dinge, die früher kaum einer Erwähnung wert gewesen wären. Auf einmal wird ein Parkplatz zum neuen Lieblingsplatz.

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„Unser Alltag ist monoton“, so schreibt es der 21-jährige Dario Schramm in seinem Buch „Die Vernachlässigten“ über die Generation Corona. „Es gibt kleine Lichtblicke und Schlupflöcher wie den Parkplatz des Schwimmbads“, fügt er hinzu. Das klinge zwar nicht nach einem viel versprechenden Ort, aber in Zeiten des Lockdowns habe es wenige Dinge gegeben, auf die er sich so gefreut habe wie auf die Treffen mit Freunden auf dem holprigen Parkplatz. „Von Angesicht zu Angesicht miteinander sprechen. Ein freundliches Gesicht sehen, das nicht aus Pixeln besteht.“

Bürokratie und Praxis

Dario Schramm ist in den vergangenen eineinhalb Jahren zu einer wichtigen Stimme der jungen Generation in Corona-Zeiten avanciert. Bis vor wenigen Monaten war er Generalsekretär der Bundes­schüler­konferenz. „Ich kann wirklich nichts für diesen bürokratischen Titel“, sagt er – und lacht. Ein Schüler als Generalsekretär, das klingt irgendwie bescheuert – und man fragt, wer sich das einmal ursprünglich ausgedacht hat. Im Grunde bedeutet der Titel aber, dass Schramm in schwierigen Pandemiezeiten Deutschlands oberster Schülervertreter gewesen ist.

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Die Bundes­schüler­konferenz hat früher eigentlich niemanden interessiert. Doch Schramm, der im vergangenen Jahr an der Gesamtschule Paffrath im rheinischen Bergisch Gladbach Abitur gemacht hat, ist es gelungen, dem Gremium öffentliches Gehör zu verschaffen.

Das lag einerseits an der Sondersituation der Pandemie. Es hat aber auch damit zu tun, dass er sich getraut hat, Stellung zu beziehen – ob in Interviews für die „Tagesthemen“, für Zeitungen oder Onlinemedien. Der Abiturient Schramm war für Journalisten stets gut erreichbar – sowohl am Morgen während des Digitalunterrichts per Whatsapp als auch am späten Abend auf dem Handy. Und er hatte etwas zu sagen: zum schlechten Stand der Digitalisierung in den Schulen, zur Frage von Corona-Tests in den Schulen, zum Mangel an Luftfiltern und vielem mehr.

Die Erlebnisse eines Abiturienten

Sein Buch, das den Untertitel „Generation Corona: Wie uns Schule und Politik im Stich lassen“ trägt, ist zweierlei. Es erzählt erstens von den Erlebnissen eines Abiturienten, der selbst in der Corona-Krise feststeckte. Zweitens ist es ein bildungspolitischer Rundumschlag, der die zahlreichen Mängel im deutschen Bildungssystem anprangert.

Eines der Themen, die ihn sowohl persönlich als auch in seiner Arbeit als Schülervertreter immer wieder beschäftigt haben, sind die Probleme in Sachen Digitalisierung in der Schule. Der 21 Jahre alte Autor beschreibt sie schonungslos: von technischen Mängeln bis hin zu einem mangelnden Fortbildungs­angebot für Lehrer und Lehrerinnen.

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Von Bett direkt in den Digitalunterricht

Ungeschönt, aber nicht ohne Humor erzählt Schramm in seinem Buch davon, wie es in der Pandemie plötzlich mit Digital­unterricht losging. Wie er sich seinen Wecker auf drei Minuten vor acht stellte, weil der Klassenraum in diesem Fall ja nur zwei Schritte von seinem Bett entfernt gewesen sei. Und wie er – nach dem Login bei der neuartigen Plattform für Video­konferenzen – in die Gesichter verschlafener Mitschüler und Mitschülerinnen blickte.

„Natürlich kommt die Lehrkraft zu spät“, schreibt er. Der Akku ihres Computers sei leer gewesen, außerdem habe sie mit der Technik überfordert gewirkt. Als es endlich losgeht, friert bei Schramm das Bild ein, auch der Ton ist weg. Der Grund: Ein Zimmer weiter hat sein Bruder ebenfalls Onlineunterricht. „Ich brülle hinüber: ‚Mach dein WLAN aus! Ich hab Leistungskurs!‘“ Dumm nur, dass sein Bruder den eigenen Unterricht auch wichtig findet.

Schramm weiß, dass er sich – bei allen Problemen und allem Ärger – in einer privilegierten Situation befunden hat. Der 21-Jährige hebt mehrfach darauf ab, dass vor allem die Schüler und Schülerinnen auf der Strecke zu bleiben drohen, deren Eltern sich nicht mal eben ein Tablet für die Kinder leisten können.

Beim Schreiben des Buches, so erzählt es der junge Autor, sei er immer wieder bedrückt davon gewesen, dass die meisten Probleme im gesamten Bildungswesen in Deutschland seit Langem bekannt seien – und sich über die Jahre trotzdem viel zu wenig bewegt habe. Das gelte insbesondere auch für das Thema der fehlenden Chancen­gleichheit im Bildungssystem.

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„Vergleicht man 100 Kinder von Nichtakademikern mit 100 Kindern von Akademikern, beginnen gerade einmal 21 der Nichtakademikerkinder ein Studium, wohingegen es bei den Akademikerkindern 74 sind“, schreibt er. Wer Akademikereltern habe, habe also eine dreifach höhere Chance, ebenfalls ein Studium beginnen zu können.

Schramm macht auch Verbesserungsvorschläge

Schramm kritisiert nicht nur, er macht auch Verbesserungs­vorschläge. Solche, die Geld kosten, wie die gezielte Förderung von Schulen in Problemvierteln. Bis hin zu Ideen, für die im Wesentlichen Regeln und Abläufe geändert werden müssten, die viel zu lange keiner hinterfragt hat. Etwa, dass eine Universität Bewerber für das Grundschul­lehramt nach Numerus clausus auswählt, statt zu versuchen, auch herauszufinden, ob jemand für den Beruf geeignet ist.

Die Schule der Zukunft wünscht Schramm sich als eine, die nicht ständig versucht, junge Menschen in Schubladen zu stecken. Er weiß selbst, was das bedeutet. Schramm, ein schlauer Typ, war ein eher durchschnittlicher Schüler, der viel angeeckt ist. Seine Schuldirektorin hat ihn zeitweise in Einzelunterricht genommen, weil er mit seinem Drang, alles zu hinterfragen, eine Lehrerin nahe an die Verzweiflung getrieben hatte. Der Direktorin und Schramm bereitete das gemeinsame Lernen offenbar Freude. Wenn er sein Abi bestehe, so wetteten sie, würden sie gemeinsam auf dem Abschlussball tanzen. Als es so weit war, legten die anderen Schüler zu diesem Anlass extra langsame Musik auf.

Schramm will auf keinen Fall Lehrer werden

Auf 137 Seiten liefert Schramm einen kompakten Einblick in das Leben deutscher Schüler und Schülerinnen und in die Probleme des deutschen Bildungssystems. Geschrieben hat er das Buch ohne Ghostwriter, wie er auf Nachfrage bei der Buchvorstellung in Berlin sagt. Hilfe vom Verlag habe es bei Struktur und Rechtschreibung gegeben.

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Was ist von ihm noch zu erwarten? Will er einmal Lehrer werden? „Auf keinen Fall“, sagt Schramm, der in Frankfurt an der Oder begonnen hat, Politik und Recht zu studieren. Oder vielleicht Politiker? Schramm – der Mitglied in der SPD ist, aber auch die FDP-Bildungspolitik lobt – sagt, er wisse, dass es gar nicht so einfach sei, politisch etwas zu bewegen. Es klingt nicht zwingend so, als wolle er einmal Kultusminister werden oder noch mal einen Generalsekretärs­titel tragen. Das Privileg eines 21-Jährigen ist einfach auch, dass er wirklich noch nicht wissen muss, was er in seinem Leben alles erreichen will – und was nicht.

Dario Schramm: Die Vernachlässigten. Generation Corona: Wie uns Schule und Politik im Stich lassen.

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