Werden Behinderte bei der Corona-Behandlung benachteiligt?
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Ein Mann in einem Rollstuhl (Symbolfoto).
© Quelle: klimkin/ Pixabay
Berlin. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sieht trotz der Corona-Pandemie keinerlei Notwendigkeit, gesetzlich zu regeln, welcher Patient im Falle von unzureichenden Behandlungskapazitäten zuerst medizinisch versorgt werden soll.
“Gesetzgeberischer Handlungsbedarf zu diesen medizinischen Fragen besteht nicht”, heißt es in einer Antwort des Gesundheitsministeriums auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen-Bundestagsabgeordneten Corinna Rüffer, die dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vorliegt. In seiner Antwort verweist das Ministerium lediglich auf die gemeinsame Empfehlung von mehreren ärztlichen Fachgesellschaften und eine Stellungnahme des Deutschen Ethikrates.
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Rüffer, die Sprecherin ihrer Fraktion für Behindertenpolitik ist, reagierte empört. Die Antwort mache sie fassungslos, sagte sie dem RND. “Wenn sich Ärztinnen und Ärzte bei Triage-Entscheidungen an die Empfehlungen der Fachgesellschaften und des Ethikrat hielten, hätten viele behinderte Menschen so gut wie keine Chance auf eine lebenserhaltende Behandlung”, sagte sie.
Patientinnen und Patienten würden demnach unter anderem auf einer “Gebrechlichkeitsskala” einsortiert. “Viele behinderte Menschen landen da weit hinten und zwar ganz unabhängig davon, ob sie mithilfe einer Intensivbehandlung wieder gesund werden könnten”, beklagte die Grünen-Politikerin.
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© Quelle: Reuters
“Verfassungswidrige Empfehlungen”
“Anstatt dafür zu sorgen, dass auch behinderte Menschen eine gleichberechtigte Chance auf Zugang zur lebensrettenden Therapie bekommen, leistet die Bundesregierung verfassungswidrigen Empfehlungen Vorschub”, kritisierte Rüffer. “Das ist auch aus Sicht von Ärztinnen und Ärzten untragbar, die im Fall einer strafrechtlichen Ahndung auf die Nachsicht der Gerichte hoffen sollen.”
Rüffer forderte den Bundestag auf, aktiv zu werden: “Jetzt steht das Parlament in der Pflicht, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten.”
Verschiedene Fachgesellschaften hatten in einer gemeinsamen Leitlinie festgelegt, dass bei nicht ausreichenden Kapazitäten diejenigen Patienten zuerst behandelt werden sollen, bei denen die größte Erfolgsaussicht besteht. Zur Beurteilung sollen unter anderem Nebenerkrankungen oder das Kriterium der “Gebrechlichkeit” herangezogen werden.
Der Deutsche Ethikrat hatte danach in einer Stellungnahme die Ansicht vertreten, dass Ärzteverbände derartige Bedingungen für eine „Triage“ festlegen können – anders als der Staat. Denn die Verfassung verbiete es, per Gesetz das Leben eines Menschen gegen das eines anderen aufzurechnen, so der Ethikrat. Die Ärzteschaft könne bei ihren Regelungen aber weiter gehen, argumentierte der Ethikrat.
“Verstoß gegen das Grundgesetz”
Gegen diese Betrachtungsweise hatten bereits andere Verbände protestiert. So schrieb das “Forum behinderter Juristinnen und Juristen” in einer Stellungnahme, die Empfehlungen der Fachgesellschaften benachteiligten Behinderte, was gegen die Verfassung verstoße. “Die von den Fachverbänden herausgegebenen Empfehlungen widersprechen diametral den Wertentscheidungen des Grundgesetzes”, so die Verfasser.
Die Auffassung des Ethikrates, Ärzteverbände dürften trotzdem derartige Regelungen festlegen, sei falsch. Vielmehr wäre es Aufgabe des Ethikrates gewesen, “den Gesetzgeber an seine Pflicht zu erinnern, im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen Kriterien für die Abwägung aufzustellen und diese für die handelnden Personen im Gesundheitswesen für verbindlich zu erklären”.
Als mögliche Lösungen, die per Gesetz festgelegt werden könnten, schlagen Behindertenverbände das Prioritätsprinzip (“Wer war zuerst da?”), das Dringlichkeitsprinzip (“Wer braucht die Behandlung am notwendigsten?”) oder das Zufallsprinzip vor. „Die Empfehlungen der Fachverbände leisten indes verfassungswidrigen Entscheidungen Vorschub. Sie sind zurückzuziehen“, forderte das “Forum behinderter Juristinnen und Juristen”.