Corona und die Party-Gänger: Kampf gegen die Nacht

Die Schuld der Nacht? Eine Discokugel dreht sich im Volkspark Hasenheide bei einer Party.

Die Schuld der Nacht? Eine Discokugel dreht sich im Volkspark Hasenheide bei einer Party.

Berlin. Noch 60 Minuten bis zur Sperrstunde. Frank Baumeister steht am Zapfhahn seiner Kiezkneipe Zur Linde in Charlottenburg und ist wütend. “Ich habe bisher alle Maßnahmen des Senats verstanden – diese verstehe ich nicht mehr”, sagt der Wirt.

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Er hat sich in den vergangenen Monaten an alle Regeln gehalten, hat Tische gesperrt, um den Abstand herzustellen, hat den Kontakt­verfolgungs­zettel überreicht, sobald der Gast durch die Tür kam, und hat ungezählte Male an die Maskenpflicht erinnert. Gerade kommt wieder eine junge Frau an die Theke – ohne Maske. “Du hast ein wunderschönes Gesicht, aber bitte zieh dir was über Mund und Nase”, sagt Baumeister charmant.

Sperrstunde in Berlin: Das sagen die Betroffenen
07.10.2020, Hamburg: ILLUSTRATION - Barkeeperin Winnie steht mit Mund-Nasen-Schutz  hinter dem Tresen einer Bar im Schanzenviertel und zapft ein Bier. Der Hamburger Virologe   Schmidt-Chanasit h��lt sch��rfere Corona-Ma��nahmen mit fl��chendeckenden Sperrstunden f��r Bars und Restaurants wie in Berlin in der Hansestadt f��r nicht zielf��hrend. (zu dpa "Virologe Schmidt-Chanasit h��lt Corona-Regel f��r ausreichend") Foto: Jonas Walzberg/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Jugendliche äußerten sich am Freitagabend, dem ersten Wochenende nach Verkündung der Sperrstunde.

Viele Gäste kämen inzwischen, weil sie sich bei ihm sicher fühlten, sagt er. Andere blieben weg, weil er so korrekt sei. Aber die Linde ein Hotspot? Kein einziges Mal hat das Gesundheits­amt seine Listen angefordert.

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Es hilft alles nichts. Die Metropolen sind wieder zu Corona-Risikogebieten geworden, und Berlin ist ganz vorn dabei. Baumeister muss einen Satz sagen, der so gar nicht zu dieser Stadt passt: “Letzte Runde!” Von 23 bis 6 Uhr müssen Kneipen und Läden geschlossen bleiben, auch Tankstellen dürfen keinen Alkohol mehr verkaufen. Die Maßnahmen gelten zunächst bis Ende Oktober.

NRW beschließt einheitlichen Katalog für Corona-Risikogebiete
06.10.2020, Nordrhein-Westfalen, K��nigswinter: Armin Laschet (CDU), Ministerpr��sident von Nordrhein-Westfalen spricht w��hrend eines Festaktes zur Verleihung der Rettungsmedaille des Landes . Die Medaille wird seit 1951 vergeben und an B��rger ��berreicht, die sich in Gefahr begeben habe, um andere Menschen zu retten. Foto: Roberto Pfeil/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet kündigte einheitliche Regeln für Corona-Risikogebiete in NRW an.

Deutschlands Großstädte haben der Nacht den Krieg erklärt, um den Tag zu retten. Berlin, Frankfurt am Main, Stuttgart, Köln, Essen – eine nach der anderen überschreiten die Städte den kritischen Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Was liegt da näher, als die Freizeit einzuschränken, als die Nacht zu nehmen? Maskenpflicht auf St. Pauli, Sperrstunde in Kreuzberg, Alkoholverbot in Köln. “Partys muss man nicht feiern, arbeiten und lernen schon”, sagt Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Einen erneuten sogenannten Lockdown könne sich das Land nicht leisten. In Schulen, Kindergärten, Universitäten und in der Wirtschaft dürfe es diese drastischen Maßnahmen nicht mehr geben.

Der vermeintlich unbeschwerte Sommer ist dem regnerischen Herbst gewichen. “Die Zeit der Geselligkeit ist vorbei”, erklärte Berlins Gesundheits­senatorin Dilek Kalayci (SPD) bereits zu Wochenanfang.

15 Minuten nach der Sperrstunde, Berlin-Kreuzberg.

Mit Bier, Kurzem und selbst gedrehten Kippen hat es sich ein Pärchen auf der Bierbank vor Abdullah Baybogans Laden auf der Schlesischen Straße in Berlin-Kreuzberg gerade erst gemütlich gemacht. Langsam fährt ein Kleintransporter der Bundespolizei die regennasse Straße entlang. Baybogan wird unruhig. “Sperrstunde, ihr müsst jetzt wirklich gehen! Sonst kostet mich das 5000 Euro!”

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Sperrstunde Berlin: Abdullah Baybogan schließt seinen Spätkauf an der Schlesischen Straße.

Sperrstunde Berlin: Abdullah Baybogan schließt seinen Spätkauf an der Schlesischen Straße.

Solche Sätze waren in Berlin bisher undenkbar. Das Recht auf Rausch zu jeder Tages- und Nachtzeit gehört zu den Grundfesten des hauptstädtischen Lebensgefühls. Und selbst als im Frühjahr Restaurants und Kneipen mehrere Wochen lang schließen mussten, hatten die kleinen Spätkauf-Läden, wie Baybogan einen betreibt, weiter geöffnet.

Das Pärchen vor Baybogans Spätkauf packt Tabak und Flaschen ein, da zieht der Ladenbesitzer ihnen auch schon die Bank fast unterm Hintern weg. Bloß keinen Ärger mit der Polizei einhandeln. Ein Mann kommt vorbei, hält beide Hände mit den Daumen nach unten. Auch Baybogan dreht zur Antwort die Daumen nach unten. Er sagt: “Die Geschäfte laufen sowieso schon das ganze Jahr schlecht, seit die Touristen fehlen. Und tagsüber verdienen wir fast nichts. Ich brauche die Nächte, um zu überleben.”

Und er könne nicht einmal nach Hause gehen, klagt der glatzköpfige Mann mit den müden Augen: “Ich muss im Laden bleiben wie ein Wachhund.” Er habe keine Versicherung für den Laden – wozu auch, sie hatten ja bisher immer auf.

60 Minuten nach Beginn der Sperrstunde, Berlin-Neukölln

In der Weserstraße ist eine Stunde nach Anbruch der neuen, alkohollosen Nacht von Polizei nichts zu sehen. Die Bars haben fast alle geschlossen, in den Spätis brennt fast überall noch Licht.

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An jeder Ecke stehen Menschen mit Bierflaschen in der Hand herum, einige singen, andere diskutieren. Alle sind ratlos, fragen auf Deutsch, Englisch, Spanisch: “Wo kann man jetzt noch hin?” Ein Rollladen rasselt herunter. Ein Uber-Auto fährt vor, die Werbung an der Beifahrertür lautet: “Rund um die Uhr auf die Tanzfläche und zurück.” Ein Satz aus einer anderen Zeit – oder ein Versprechen?

Kurze Zeit später, irgendwo nahe einer Autobahnbrücke, an einem Kanal

Ein unscheinbarer Trampelpfad führt direkt in den Busch hinein. Mittendrin eine kleine Lichtung, darin eröffnet sich eine kleine farbenfrohe Welt der Ekstase. Bäume, Zweige und Blätter leuchten in Lila, Blau und Gelb. DJ-Pult und Lautsprecher sind schon in Position gebracht. Die letzten Vorbereitungen fast abgeschlossen. Hier noch eine bunte Lichterkette, da noch eine funkelnde Discokugel. Fertig.

Bevor der Rave beginnt, erhalten Partygäste noch ein kurzes Briefing: “Falls die Bullen kommen, müssen wir alle schnell reagieren”, sagt ein Mann mit lauter Stimme. Er gehört zum Kollektiv, das die wöchentlichen illegalen Open Airs organisiert. Die Menschen hören aufmerksam zu. Der Schlachtplan: Weibliche Gäste sollen die Polizisten in ein Gespräch verwickeln. Der Nächstbeste schnappt den DJ-Controller und ergreift die Flucht. Zustimmung durch Kopfnicken.

“Beim Feiern kann ich frei sein, mich gehen lassen und dabei alles um mich herum vergessen”, sagt Mia*. Seit Beginn der Pandemie war die 27-Jährige auf keiner Party mehr. Den Abend sieht sie als letzte Chance zum ausgiebigen Tanzen. “Hier kann ich einfach ich selbst sein, der Welt den Rücken kehren und sagen: Jetzt ist mir alles egal. Ich bin nur hier, nur bei mir selbst. Ich genieße den Moment, die Musik, die Lichter, die Leute”, erzählt sie.

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Eine Handvoll Menschen spannt eine riesige Plane über die Waldschneise. Somit sind Tanzfläche und Pult vor Regen geschützt. Gegen die frostige Kälte helfen nur mehrere Schichten Kleidung. Und natürlich: Bewegung.

Die ersten Menschen stellen sich auf die Tanzfläche und wippen – zunächst zögerlich – zur elektronischen Melodie. Auf einer Europalette, die als Sitzbank dient, hocken vier junge Erwachsene. Ein Mann unter ihnen legt sorgfältig Bahnen weißen Pulvers auf eine Spiegelfliese.

Musik an, Realität aus

Treiben diese jungen Menschen wirklich die Pandemie in Berlin an? Ebenso wie die Kneipengäste gelten sie als Superspreader, als Sündenböcke sowieso. Über die Nacht verteilt kommen und gehen um die 40 Personen. Die Leute kennen sich untereinander. Eine Maske trägt niemand. Auf der Tanzfläche spricht ohnehin kaum jemand, es wird Abstand gehalten. “Im Moment fühle ich mich so sicher in dieser Umgebung”, antwortet Mia auf die Frage, ob sie sich Gedanken zu Corona macht. “Wir sind im Freien, und es ist nicht viel los. In jeder S-Bahn oder U-Bahn habe ich mehr Bedenken als hier, bei einem kleinen Rave im Freien.”

Gegen zwei Uhr morgens ist die Musik spürbar lauter, der Bass intensiver, die Beats schneller. Als ob jemand den Schalter in den Köpfen der Menschen umlegt. Musik an, Realität aus.

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Jim* ist bereits zum zehnten Mal zu Gast beim Open Air. Crew und Gäste kennt er inzwischen gleichermaßen. “Teilweise sieht man hier jede Woche dieselben Gesichter, das fühlt sich richtig heimelig an”, schwärmt der 29-Jährige.

Mia hat zuvor bereits legal getanzt. In der Else, einem Freilufttanzlokal nahe der S-Bahn-Station Treptower Park. Kostenpunkt: 20 Euro. Wie üblich in der Szene ist hier Feiern von 14 bis 22 Uhr erlaubt. Zeitlich limitierter Exzess sozusagen.

Limitiert sind auch die Plätze. Neben dem Eingang hängen mehrere Zettel mit QR-Codes. Wer in der Else feiern will, muss sich vorher registrieren. Dazu scannt man den QR-Code mit dem Smartphone. Automatisch öffnet sich eine neue Mail in der Mail-App, adressiert an den Club. Name, Geburtstag und Telefonnummer eintippen und absenden. Im Anschluss kommt die Bestätigungsmail, die beim Security vorgezeigt werden muss.

So soll zumindest ein Rest der Nacht gerettet werden. Der Branchenverband Clubcommission Berlin regte bereits freiwillige Schnelltests vor den Clubtüren an. So ließen sich Infektionen zumindest zurückverfolgen.

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Die illegale Party im Busch nimmt weiter Fahrt auf. Was, wenn jetzt die Polizei kommt? “Dann ist es eben so”, sagt Mia entschieden. “Dann gehen wir nach Hause. Dass dieses kleine Rave unter Bäumen, irgendwo in der Pampa illegal ist, finde ich lächerlich.”

Gegen 6.30 Uhr entdecken zwei Polizisten die Party. Sie gehen schnurstracks auf den DJ zu. Wenige Augenblicke später ziehen sie wieder ab. Keine Anzeige, keine Beschlagnahmung. Nur die freundliche Bitte, die Musik auszumachen. Die Gäste halten sich brav an die Anweisung und beginnen mit dem Abbau. Ein paar Leute ziehen mit ihren Sachen ein paar Hundert Meter weiter zum Wasser und lassen dort den Morgen mit leiser Musik ausklingen. Dieses Mal hatten sie Glück.

“Ich habe es wirklich vermisst, unter Menschen zu sein”, sagt Mia. “Es bringt ja nichts, sich zu Hause einzusperren, und nächstes Jahr stellt man dann fest, dass die Hälfte der Menschen unter Einsamkeit oder sogar Depression leiden.”

Winfried Kretschmann macht eine andere Rechnung auf: “Ich kann ja verstehen, dass die Jungen gern feiern würden. Doch sie müssen jetzt solidarisch mit den Alten sein, so wie die Alten beim Kampf gegen den Klimawandel solidarisch mit den Jungen sein müssen.” Der Kampf gegen das Virus, er wird jetzt auch mit moralischen Mitteln geführt.

*Name redaktionell geändert.

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