Corona und die Alten: Wie viel Schutz ist zu viel Schutz?

Nähe neu gedacht: Durch die Corona-Pandemie verändern sich unsere zwischenmenschlichen Beziehungen generell, doch vor allem zu den alten Menschen. Sie leiden darunter. Wie viel Schutz ist denn überhaupt verhältnismäßig?

Nähe neu gedacht: Durch die Corona-Pandemie verändern sich unsere zwischenmenschlichen Beziehungen generell, doch vor allem zu den alten Menschen. Sie leiden darunter. Wie viel Schutz ist denn überhaupt verhältnismäßig?

Berlin. Clemens Tesch-Römer ist unverhofft selbst zum Objekt seiner Forschung geworden. Seine ganze Familie sogar. „Zu Beginn der Pandemie wollte unsere Tochter nicht, dass unsere vierjährige Enkelin zu uns kommt. Zu unserem eigenen Schutz, wie sie sagte”, berichtet der 63-jährige Altersforscher.

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Das sei gut gemeint gewesen, aber seine Frau und er hätten es dennoch als Bevormundung empfunden, als Entmündigung: „Wir kennen das Risiko und müssen selbst entscheiden können, ob uns der Kontakt oder unsere eigene Sicherheit wichtiger ist”, hätten sie damals argumentiert.

Gemeinsam mit der Tochter entschieden die Eheleute dann, dass die Enkelin weiter regelmäßig zu Besuch kommt. „Alles andere wäre für uns auch kaum zu ertragen gewesen”, sagt Tesch-Römer.

Ethische Fragen – Kein Antworten

Die Corona-Pandemie hat das gesamte Leben in einem bis dahin unvorstellbarem Maße durcheinandergewirbelt – auch und besonders das der Älteren. Grundrechte der Bürger sind teilweise außer Kraft gesetzt, das öffentliche Leben ist erheblich eingeschränkt, das Gesundheitswesen ist belastet wie noch nie in der bundesdeutschen Geschichte.

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Die Krise hat auch ethische Fragen aufgeworfen, auf die die Gesellschaft nicht vorbereitet war – und auf die sie teilweise bis heute keine zufriedenstellende Antwort hat. Dazu gehört der Umgang mit älteren Menschen.

Schon seit Jahren wird hierzulande angesichts der Alterung der Gesellschaft vor einem wachsenden Generationenkonflikt gewarnt. Da die Zahl der älteren Wähler steigt, verteilt die Politik an die Senioren Wahlgeschenke, die die Jungen bezahlen müssen, lautet eine weitverbreitete Kritik.

Die Älteren sind eine Last, körperlich und finanziell Schwache, die man durchfüttern muss, ist die eine Rollenzuschreibung. Den „jungen Alten” geht’s besser denn je, sie hatten ihr Leben lang Arbeit und jetzt eine feine Rente, sie sind zahlungskräftig, unternehmungslustig und egoistisch, ist die andere.

Neuer Abstand, neue Nähe

Corona, so scheint es, führt zu einer Zuspitzung des Konfliktes. Kaum ein Politiker, eine Kirchenfrau, ein Ethiker wurde im Frühjahr müde zu betonen: Der Lockdown einer ganzen Gesellschaft ist nichts weiter als ein Akt der Solidarität mit den Alten und Geschwächten.

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Hat die Pandemie Konflikte verschärft? Oder hat sie die Gesellschaft eher zusammengeschweißt?

Es ist sicher zu früh für abschließende Bewertungen darüber, wie Corona das Verhältnis zwischen Jung und Alt beeinflusst hat. Zumindest eine Lektion wurde aber gelernt: Die Isolierung von Pflegebedürftigen und Hochbetagten zu Beginn der Pandemie war ein massiver Fehler. Für Altersforscher kam sie allerdings nicht wirklich überraschend, weil das Vorgehen genau den Vorurteilen und Stereotypen folgte, die Ältere pauschal als unselbstständig, krank, gebrechlich und eingeschränkt entscheidungsfähig zeichnen.

Der Direktor des Instituts für Gerontologie an der Uni Heidelberg, Andreas Kruse (2.v.l), bei einer Pressekonferenz mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD).

Der Direktor des Instituts für Gerontologie an der Uni Heidelberg, Andreas Kruse (2.v.l), bei einer Pressekonferenz mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD).

„Zu Beginn der Pandemie wurde öffentlich ein einseitiges Bild vom Alter vermittelt, vor allem dieses: Alte Menschen können nicht in dem Maße selbstverantwortlich und mitverantwortlich handeln wie junge”, sagt der Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, Andreas Kruse.

Alle älteren Menschen seien über einen Kamm geschert worden: „Die großen Unterschiede zwischen Menschen gleichen Alters mit Blick auf Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Verantwortungsfähigkeit wurden vernachlässigt.” Alt ist eben nicht gleich alt. Und rüstige Senioren sind nicht mehr in Gefahr als jüngere Menschen, die chronische Leiden haben.

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Was sich im Frühjahr in Pflegeeinrichtungen, Altenheimen und Krankenhäusern abgespielt hat, gehört wohl zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Pandemiegeschichte. Angehörige durften sich wochenlang nicht sehen, selbst für Sterbende galten Besuchsverbote. „In einem Fall wollte ein Heimbewohner seine im Sterben liegende Frau ein letztes Mal in der Klinik besuchen. Doch die Heimleitung teilte ihm mit, dass er nicht ins Pflegeheim zurück dürfe, wenn er seine Frau besuchen würde. Er ist dann aus Verzweiflung im Heim geblieben”, berichtet zum Beispiel der Bonner Palliativmediziner Lukas Radbruch.

Die in stationären Einrichtungen vorgenommene Isolation hätte nicht geschehen dürfen, denn mit dieser wurde die Menschenwürde verletzt. Das darf sich keinesfalls wiederholen.

Andreas Kruse, Altersforscher

Auch für Altersforscher Kruse ist völlig klar: „Die in stationären Einrichtungen vorgenommene Isolation hätte nicht geschehen dürfen, denn mit dieser wurde die Menschenwürde verletzt. Das darf sich keinesfalls wiederholen.”

Darüber besteht offensichtlich inzwischen ein gesellschaftlicher Konsens. Keine Rede von Politikern, in der jetzt nicht vor einer erneuten Isolation gewarnt wird.

Allerdings gilt inzwischen bei einigen Seniorenvertretern jeder Versuch, es anders zu machen und besondere Schutzregeln für Risikogruppen einzuführen, als unzulässig. Scharfe Kritik erntete etwa der grüne Tübinger Bürgermeister Boris Palmer für sein Schutzkonzept. Danach sollen Alte und chronisch Kranke bevorzugt zwischen 9.30 Uhr und 11 Uhr einkaufen gehen und Sammeltaxis statt Busse nutzen. Prompt sprachen der Landesseniorenrat und die Senioren-Union der CDU Baden-Württembergs von Stigmatisierung.

Fürsorge statt Bevormundung

Uwe Liebe-Harkort, Vorsitzender des Stadtseniorenrates, sieht das als Mann vor Ort ganz anders. „Ich bin froh, dass ich in Tübingen wohne”, sagt er. „Wir werden ernst genommen und sind in einer guten Kooperation mit der Kommune und Herrn Palmer.” Für den Vorwurf der Stigmatisierung gebe es keinen Grund. „Ich glaube, dass die Maßnahmen helfen. Deshalb stehe ich dahinter.”

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Für Tesch-Römer, der das Deutsche Zentrum für Altersfragen in Berlin leitet, ist bei allen Schutzmaßnahmen vor allem wichtig, dass „nicht erneut über die Köpfe der älteren Generation hinweg entschieden wird.“ Sonst werde jede noch so gut gemeinte Fürsorge als Bevormundung wahrgenommen: „Es darf nicht wieder zu einer Überbehütung kommen und dazu, der älteren Generation pauschal jede Handlungsfähigkeit abzusprechen.”

Clemens Tesch-Römer, Direktor des Deutschen Zentrums für Altersfragen.

Clemens Tesch-Römer, Direktor des Deutschen Zentrums für Altersfragen.

Für ihn gibt es noch weitere Pro­bleme, die bisher nicht gelöst sind. Dazu zählt er etwa die Frage, wer behandelt werden soll, wenn die Kapazitäten in den Krankenhäusern nicht mehr ausreichen. „Die medizinischen Fachgesellschaften, die für die Triage Handlungsempfehlungen formuliert haben, behaupten zwar, dass nicht nach dem Alter entschieden werden soll”, sagt Tesch-Römer. „Doch wenn man genau hinschaut, werden junge Menschen de facto bevorzugt.”

Er halte es für höchst bedenklich, wenn man Triage-Entscheidungen allein den Medizinern überlasse. „Für diese ethische Frage benötigen wir dringend eine gesellschaftliche Debatte, das dürfen doch medizinische Fachgesellschaften nicht allein entscheiden”, empört er sich. Dafür hätte man im Sommer Zeit gehabt, doch die Chance sei vertan worden. Das sei vor allem deshalb schlimm, weil es nun in der zweiten Welle der Pandemie durchaus passieren könne, dass die Kliniken nicht mehr alle gleichermaßen versorgen könnten.

Familien rücken zusammen

Für das jahrelange Bemühen der Gerontologie, in der Gesellschaft einen differenzierten Blick auf das Alter zu verankern und die Eigenverantwortung im Umgang mit Alter und Tod zu stärken, sieht Tesch-Römer die Gefahr eines Rückschritts: „Die generalisierenden Debatten über den Schutz der Älteren werden ihre Spuren hinterlassen und könnten dazu führen, dass ältere Menschen wieder vermehrt nur als Schwache und als Last wahr genommen werden.”

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Der Experte sieht aber partiell auch eine positive Entwicklung. „Viele Familien sind enger zusammengewachsen”, sagt Tesch-Römer. „Die Generationen suchen stärker als vorher nach Wegen, sich gegenseitig zu unterstützen.”

Der Heidelberger Wissenschaftler Kruse glaubt ebenfalls, dass die Pandemie auch Gutes bewirkt hat. Viele ältere Menschen zeigten in der Krise, dass sie dank ihrer Lebenserfahrung überaus kompetent und psychisch robust seien. Dieser wichtige Betrag für eine Gesellschaft sei in der Vergangenheit oft nicht wahrgenommen worden. „In einer Zeit aber, in der ältere Menschen wegen der Pandemie in der Öffentlichkeit nicht mehr in dem Maße präsent sind wie früher, bemerken wir, dass uns etwas Wichtiges fehlt.”

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