Der Rechtsstaat auf der Rüttelstrecke

Berlin: Ein Mund-Nasen-Schutz wird vom Wind über den Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor geweht.

Berlin: Ein Mund-Nasen-Schutz wird vom Wind über den Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor geweht.

Berlin. Was ist los mit Deutschland? Monatelang wurden Land und Leute weltweit gerühmt für eine wundersame Virusabwehr. Doch nun, da die zweite Welle sich mit Macht erhebt, gibt es Unsicherheiten wie noch nie seit Beginn der Pandemie.

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Sogar Fachleute verlieren derzeit den Überblick. Kaum ist eine neue Maßnahme erlassen wie etwa das umstrittene Beherbergungsverbot, wird sie wieder aufgehoben. Mal greift die Justiz ein, wegen der Klage eines Bürgers. Mal steuern politische Instanzen plötzlich um, nach höherem politischem Ratschluss.

Die Landesgesundheitsminister wirken in dieser Szenerie wie hilflose Spieler am Flipperautomaten, rundum beäugt, aber ohne viel Einfluss auf den chaotischen Zickzackkurs, den ihre Kugeln am Ende nehmen. Sie schießen eine ab und gucken, was passiert.

Laschet: Deutliche Reduzierung von sozialen Kontakten nötig

Nach dem Treffen von Bund und Ländern hat NRW-Ministerpräsident Armin Laschet schärfere Maßnahmen für sein Bundesland verkündet.

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Pech für Stuttgart und Hannover, Glück für Kiel

In Baden-Württemberg und Niedersachsen zum Beispiel kippten Gerichte das Beherbergungsverbot: Pech für die Landesregierungen in Stuttgart und Hannover. In Schleswig-Holstein dagegen hielt das Oberverwaltungsgericht soeben die Regelungen aufrecht: Glück für die Regierenden in Kiel.

Eine Familie aus Recklinghausen muss nun tatsächlich negative Corona-Tests vorlegen – anderenfalls komme eine Übernachtung auf Sylt nicht infrage, sagt das OVG Schleswig. Das Interesse der einheimischen Bevölkerung in Schleswig-Holstein am Schutz vor dem Virus sei höher zu gewichten als das Interesse der Familie aus Nordrhein-Westfalen an einer touristischen Reise.

Wie die ablehnenden und zustimmenden Urteile zu Beherbergungsverboten am Ende zusammenpassen sollen, bleibt das Geheimnis der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Doch man muss fair bleiben: Entscheidungen zu einer neuen Thematik formieren sich oft erst über Jahre zu einer gefestigten Rechtsprechung; erfahrungsgemäß helfen dabei irgendwann Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht.

Auch im Streit um Auflagen für Gastwirte ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. In Berlin verhängte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci eine Sperrstunde ab 23 Uhr, wenige Tage später hob das Verwaltungsgericht die Anordnung auf. Nun jubeln die Wirte, allerdings zu laut und zu früh.

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Schenkt in Restaurants und Kneipen noch jemand Alkohol aus nach 23 Uhr? Polizeistreife in Berlin-Friedrichshain.

Schenkt in Restaurants und Kneipen noch jemand Alkohol aus nach 23 Uhr? Polizeistreife in Berlin-Friedrichshain.

Als Knackpunkt könnte sich die Frage erweisen, ob sie sich wirklich an das – fortbestehende – Ausschankverbot für Alkohol ab 23 Uhr halten. Wenn die Berliner Behörden demnächst beweisen können, dass in den Kneipen gegen das Alkoholverbot ab 23 Uhr verstoßen wird, kann Kalayci einen neuen Anlauf machen.

Zu besichtigen ist ein Rechtsstaat auf der Rüttelstrecke. Warnlampen leuchten, das Fahrzeug schaukelt. Zugleich aber arbeiten die Sensoren und die Stoßdämpfer. Was manche als Chaos abtun, ist in Wahrheit der Versuch, auch unter den Stressbedingungen der Pandemie die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Dass jetzt Gerichte alles überprüfen, ist so gewollt. Das Grundgesetz verlangt nun mal, dass der Staat sich bei jedem Eingriff auf das wirklich Erforderliche beschränkt und das mildeste Mittel sucht.

Ist China uns am Ende überlegen?

Was wäre die Alternative? Manche stellen bereits die Systemfrage. Ist China, weil es auch dann zum schärfsten Mittel greifen kann, wenn es gar nicht erforderlich ist, überlegen?

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Eine Gesellschaft, die nur eine vordergründige Freiheit zelebriert, durch Reisen, Partys und grölende Verstöße gegen Hygienevorschriften, könnte sich am Ende in der Tat als unterlegen erweisen. Die wahre Stärke der westlichen Welt lag aber schon immer in etwas anderem, etwas Anspruchsvollerem: der Kombination von Freiheit und Verantwortung.

Was spricht dagegen, einfach um 23 Uhr nach Hause zu gehen, statt sich lange um Sperrstunden zu streiten? Gibt es nicht gerade Wichtigeres als den nächsten Urlaub oder die nächste Party? Viele kleine Selbstbeschränkungen könnten am Ende den nächsten zwangsweisen Lockdown überflüssig machen.

Jeder trägt jetzt ein Stück Verantwortung für alle anderen. Und je mehr Menschen dies erkennen, umso stärker wäre der daraus erwachsende zusammenführende Effekt für alle. Die “harmonische Gesellschaft” im – totalitären – Sinne von Xi Jinping kriegen wir nicht hin, und wir brauchen sie auch gar nicht, auch nicht zur Pandemiebekämpfung. Aber mehr Einsicht in die Notwendigkeit wäre jetzt das Gebot der Stunde.

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