Aiwanger und die Impfskeptiker: die Grenzen der Aufklärung
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Wenig Besuch in einem Impfzentrum in Hamburg. Die Impfbereitschaft lässt in Deutschland nach, dabei müssten sich für eine Herdenimmunität noch Millionen weitere Bürgerinnen und Bürger impfen lassen.
© Quelle: imago images/Joerg Boethling
Berlin. Hubert Aiwanger steht häufig in der Kritik. Als „falscher Mann zur falschen Zeit im falschen Amt“ wurde der stellvertretende bayerische Ministerpräsident schon bezeichnet, als „Hofnarr“ oder als „Staatsminister für Populismus“.
Doch seit einigen Wochen genießt der Chef der Freien Wähler bei einigen Menschen Kultstatus: Aiwanger ist der einzige Regierungspolitiker in Deutschland, der sich offen dazu bekannt hat, sich nicht impfen lassen zu wollen. Er streut zudem öffentlich Zweifel an Sicherheit und Wirksamkeit der Impfstoffe – und verbreitet nachweislich falsche Informationen über die Relevanz des Impfens.
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Als „hochproblematisch und irritierend“ kritisiert etwa SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach das Verhalten des bayerischen Wirtschaftsministers. Es sei sein gutes Recht, sich nicht impfen zu lassen. Aber mit seinen Aussagen stelle er sich gegen den Konsens der Wissenschaft.
Aiwangers Ruf: Themen aufzugreifen, die Menschen vor Ort bewegen
Doch es wäre wohl zu einfach, Awaingers Position als fehlgeleitetes Querdenkertum abzutun. Denn er mag zwar ein eigenwilliger Politiker sein. Er hat sich aber den Ruf erarbeitet, Themen aufzugreifen und sich zu eigen zu machen, die viele Menschen vor Ort bewegen.
Dass Aiwanger beim Thema Impfen nicht allein steht, ist am schleppenden Verlauf der bundesweiten Impfkampagne klar zu erkennen. Obwohl es inzwischen genug Vakzine gibt, sinkt die Zahl der täglichen Impfungen immer weiter. Welche Motive halten die Menschen von einer Impfung ab? Kann man sie noch überzeugen? Und was passiert, wenn die Impfquote nicht für die sogenannte Herdenimmunität ausreicht?
Bayerischer Wirtschaftsminister will sich nicht impfen lassen
Der bayerische Wirtschaftsminister Aiwanger will sich erst mal nicht gegen das Coronavirus impfen lassen. Im Netz gab es dafür viel Kritik und Spott.
© Quelle: dpa
Die radikalen Impfgegner
Das Bild ist vielschichtig. Da sind zum einen die radikalen Impfgegner: Sie lehnen Impfungen generell ab, also auch die Immunisierung gegen Masern oder Tetanus. Das Robert Koch-Institut (RKI) schätzt ihren Anteil auf 2 bis 5 Prozent der Bevölkerung. Die Impfgegner, häufig zu finden unter Anhängern der Homöopathie und der Anthroposophie, glauben unter anderem, dass Impfungen den natürlichen Kreislauf des Lebens stören und das Immunsystem schwächen.
Sie sind überzeugt, dass ein Schutz nur gegeben ist, wenn die Erkrankung selbst durchgemacht wird. Verbreitet sind Mythen, wonach Impfungen zu Krankheiten führen oder auch Autismus. All das ist seit Langem wissenschaftlich widerlegt. Experten sind sich gleichwohl einig, dass radikale Impfgegner von einer Corona-Impfung nicht überzeugt werden können.
Die „Querdenker“
Dann gibt es die „Querdenker“: Viel stärker als bei den Impfgegnern sind in dieser Gruppe Verschwörungstheorien verbreitet, die sich in der Regel damit beschäftigen, dass wahlweise der Staat, die Pharmaindustrie oder irgendeine geheime Macht Impfungen dazu nutzt, die Menschen zu unterjochen.
Der harte Kern dürfte sich kaum umstimmen lassen, aber es gibt Berichte, wonach die Bewegung an Zulauf verliert und sich Mitläufer abwenden. Ob sich diese am Ende doch impfen lassen, ist fraglich, aber zumindest nicht ausgeschlossen.
Die Impfskeptiker
Die dritte große Gruppe sind die Impfskeptiker: Dazu zählt das RKI etwa 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung. Sie gelten als empfänglich für irreführende Informationen, sind aber nicht per se gegen eine Impfung. Typische Vorbehalte: Die Impfstoffe können gar nicht sicher sein, weil sie in Rekordzeit entwickelt wurden. Bedenken gibt es auch gegen die Wirkungsweise der neuen mRNA-Impfstoffe.
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Nordrhein-Westfalen, Bochum: Sogenannte „Querdenker“ tragen Anfang Juli bei einem Protestmarsch ein Plakat mit der Aufschrift „Freie Impfentscheidung. Keine Kinderimpfung. Keine digitalen Impfpässe. Volle Grundrechte für alle“.
© Quelle: Jonas Güttler/dpa
Viele Menschen lassen sich zudem abschrecken, weil manche Geimpfte starke „Nebenwirkungen“ erlebt hätten. Auch Aiwanger sagte in einem Interview, er höre in seinem privaten Umfeld von Nebenwirkungen, bei denen einem „die Spucke wegbleibe“. Konkrete Beispiele wollte er allerdings nicht nennen.
Impfskeptiker kann und muss man überzeugen, um die Impfstrategie zum Erfolg zu führen. Offenbar werden aber ihre Bedenken in der bisherigen Informationskampagnen der Regierung nicht richtig aufgegriffen. Es müsse darum gehen, die Leute für eine Impfung zu gewinnen, die sich nicht ausreichend informiert fühlten und Ängste hätten, die man ihnen nehmen könnte, schreibt zum Beispiel der Linken-Politiker Jan Korte in einem Papier, das dem RND vorliegt.
Reaktion oder Nebenwirkung?
Dabei sind viele Irrtümer leicht aufzuklären, etwa die Verwechslung von Impfreaktion und Nebenwirkung. Schmerzen an der Einstichstelle, Kopfschmerzen oder Fieber sind typische Reaktionen kurz nach der Impfung. Sie zeigen, dass der Körper reagiert und Antikörper bildet. Nebenwirkungen können hingegen lang anhalten und zu Komplikationen führen. Bei allen zugelassenen Corona-Impfstoffen sind solche ernsten Erkrankungen aber bisher äußerst selten aufgetreten.
Immer wieder genannt werden auch Muslime: Es gibt die Befürchtung, unter den rund 5,5 Millionen Muslimen in Deutschland gebe es viele Impfgegner. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman A. Mazyek, weist das zurück. „Es gibt für Muslime keine religiösen Gründe, das Impfen gegen Corona abzulehnen. Im Gegenteil: Der Schutz anderer vor Krankheiten und die eigene gesundheitliche Unversehrtheit sind im Islam ein hohes Gut.“
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Es gebe zwar auch unter Muslimen „Querdenker“, sie hätten jedoch wenig Erfolg. Zwei Drittel der Moscheegemeinden böten Impfaktionen an: „Die Resonanz, auch in der nichtmuslimischen Nachbarschaft der Gotteshäuser, ist groß.“
Ziel der Herdenimmunität
Was bedeutet das nun alles für die angestrebte Herdenimmunität? Da die ansteckende Delta-Variante inzwischen auch hierzulande vorherrschend ist, geht das RKI davon aus, dass mindestens 85 Prozent der Zwölf- bis 59-Jährigen vollständig geimpft sein müssen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen und eine starke vierte Welle zu verhindern.
Bei den Senioren ab 60 müsse die Quote 90 Prozent betragen. Von beiden Werten ist Deutschland noch weit entfernt: Bei den Zwölf- bis 17-Jährigen beträgt die Quote aktuell 8,9 Prozent, bei den 18- bis 59-Jährigen 50,9 Prozent und bei den über 60-Jährigen 78,6 Prozent. Gelingt es nicht, einen Großteil der Impfskeptiker und -skeptikerinnen zu gewinnen, dann ist das Ziel nicht zu erreichen.
Allerdings wird selbst nach Berechnungen des RKI schon bei einer Quote von 75 Prozent eine vierte Welle keine Überlastung des Gesundheitswesens mehr mit sich bringen. Die kritische Grenze liegt demnach zwischen 65 und 75 Prozent. Auch dazu müssen allerdings zumindest Teile der Impfskeptiker mit ins Boot geholt werden.
Impfpflicht wäre verfassungsrechtlich möglich
Auf eine Impfpflicht, wie es sie etwa das autoritär regierte Turkmenistan für alle Bürgerinnen und Bürger ab 18 verordnet, will man sich in Deutschland nicht einlassen. Eine allgemeine Impfpflicht ist zwar verfassungsrechtlich möglich, bis Ende 1975 gab es diese gegen die Pocken. Für Corona wäre aber eine Gesetzesänderung durch den Bundestag notwendig, wofür es keine Mehrheit gibt.
Frankreich, Griechenland oder Italien gehen aber einige Schritte auf diesem Weg. Sie haben für das gesamte Personal in Krankenhäusern und Altenheimen eine Impfpflicht eingeführt. Unter Juristen ist umstritten, ob das auch in Deutschland möglich ist. Wahrscheinlich wäre dazu eine Gesetzesänderung nötig.
Israel will über 60-Jährigen dritte Corona-Impfung geben
Angesichts steigender Infektionszahlen will Israel als erstes Land über 60-Jährigen eine dritte Impfdosis gegen das Coronavirus geben.
© Quelle: dpa
Das Vorbild der Masernimpfpflicht, die auch für Kita- und Schulpersonal gilt, taugt nur bedingt: Bei der Masernschutzimpfung ist sicher, dass Immunisierte niemanden mehr anstecken können. Dieser Nachweis fehlt bei der Corona-Impfung. Damit dient sie primär dem eigenen Gesundheitsschutz. Hier kann der Arbeitgeber nicht mitreden. Eine Diskriminierung von Ungeimpften am Arbeitsplatz ist unzulässig.
„Eine Impfpflicht ist ein zu gravierender Eingriff in die Freiheitsrechte“
So ähnlich sieht es auch Reinhold von Eben-Worlée, Präsident beim Verband der Familienunternehmen. „Eine Impfpflicht ist ein zu gravierender Eingriff in die Freiheitsrechte“, sagte er dem RND. Stattdessen plädiert von Eben-Worlée für eine Testpflicht am Arbeitsplatz. Die sei nötig, damit die geimpften Mitarbeiter einigermaßen sicher sein könnten, nicht von den Impfverweigerern angesteckt zu werden. Nur so lasse sich ein weiterer Lockdown verhindern.
Ungeimpfte müssen aber womöglich Nachteile in Kauf nehmen. Das gilt in der Politik derzeit als effektivster Weg, Unentschlossene vom Impfen zu überzeugen – auch wenn das so klar selten gesagt wird. Die neue Einreiseverordnung ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Bundesregierung die unterschiedliche Behandlung Schritt für Schritt ausbaut.
Zudem herrscht breite Einigkeit darüber, dass Corona-Tests spätestens im Herbst selbst bezahlt werden müssen, wenn sie nicht medizinisch erforderlich sind. Und: Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) weist immer wieder darauf hin, dass die Vertragsfreiheit es erlaube, wenn etwa Gastronomen nur noch Geimpfte einlassen.
Überzeugung mit Bratwurst
Fazit: Die Bundesregierung muss dringend mehr Aufklärung betreiben. Einfache „Lass dich impfen“-Kampagnen reichen nicht aus. Am Ende dürften jedoch zunehmende Freiheiten für Geimpfte und damit eine Benachteiligung von (gewollt) Ungeimpften hohen Druck aufbauen. Dieses Vorgehen scheint epidemiologisch und politisch gerechtfertigt: Wer sich nicht impfen lässt, gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch andere – insbesondere Kinder, für die es noch keine zugelassenen Impfstoffe gibt.
Vielleicht aber geht ja auch alles viel einfacher: Eine Bratwurst als Belohnung hat der Impfstelle im südthüringischen Sonneberg am Freitag einen regelrechten Ansturm beschert. 250 Impflinge stellten sich dort bis zum Nachmittag an – fast doppelt so viele wie an normalen Tagen ohne Verköstigung mit der legendären Thüringer Spezialität.