100.000 weitere Tote sind realistisch: Experten fordern „Not-Schutzschalter“
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Nur schnelle Impfungen helfen noch gegen die vierte Welle, sagen Fachleute.
© Quelle: Sebastian Gollnow/dpa
Angesichts drastisch steigender Infektionszahlen will die Politik in der nächsten Woche den Kurs für einen stärkeren Corona-Schutz im Winter festlegen. Die Ampelparteien haben im Bundestag ein Maßnahmenpaket vorgestellt, mit dem die Länder flexibel auf das Infektionsgeschehen reagieren sollen.
Wie stark die Maßnahmen gegen die vierte Welle helfen könnten, haben 21 Virologen, Epidemiologen und andere Fachleute am Donnerstag in einem Strategiepapier veröffentlicht. Demnach wird allein die Einführung von 2G- und 3G-Regelungen nicht ausreichen, um die Krankenhäuser umfangreich zu entlasten. Selbst bei einem leichten Anstieg der täglichen Impfungen wäre das Gesundheitssystem weiterhin „beträchtlich“ belastet.
Gegen vierte Welle hilft nur „Impf- und Booster-Offensive“
Die vierte Welle lasse sich nur durch eine „Impf- und Booster-Offensive“ brechen, so die Wissenschaftler. Würde es gelingen, rund 7 Prozent der Bürger pro Woche zu boostern, wären vor Weihnachten 50 Prozent der Deutschen gut geschützt und eine Überlastung der Intensivstationen abgewendet. Die Booster-Quote von 50 Prozent hatte zuletzt die Corona-Welle in Israel brechen können. „In Deutschland könnte man sehr wahrscheinlich eine ähnliche Wirkung erzielen“, heißt es von den Fachleuten. Denn der Booster erhöhe den Schutz vor einem schweren Verlauf und einer Ansteckung noch mal um das Zehnfache.
Die Physikerin und Pandemiemodelliererin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut hält zudem die Vorbereitung eines kurzen, harten Lockdowns für notwendig. „Wenn wir in einer verzweifelten Situation sind, müssen wir zwei Wochen lang alles herunterfahren“, so Priesemann. Diesen „Not-Schutzschalter“ könne sie sich über Weihnachten oder kurz nach den Feiertagen im Januar vorstellen. Man müsse schon jetzt über „Entlastungswochen für die Intensivstationen“ nachdenken. Diese seien besser als ein „Endloslockdown“, so Priesemann. 2G-Regeln hätten dagegen nur einen geringen Effekt. Schließlich könne man Menschen nicht in 2G und 3G trennen, da sie zu Hause oder am Arbeitsplatz doch wieder aufeinandertreffen.
100.000 weitere Tote? „Das ist eine realistische Zahl“
Sollten keine Maßnahmen ergriffen werden, wird es zahlreiche Tote geben: Der Virologe Christian Drosten hatte vor „100.000 weiteren Toten“ gewarnt, und Modelliererin Priesemann stimmt dieser Schätzung zu. „Das ist eine realistische Zahl“, sagte sie auf RND-Nachfrage. „Wir wissen, dass noch mindestens dreimal so viele Menschen einen schweren Verlauf haben können wie bisher in der Pandemie.“
Drosten geht bei der Modellierung der Todeszahlen zudem davon aus, dass die Pandemie im Frühjahr nicht vorbei sein wird. Dem stimmt auch der Virologe Klaus Überla (Mitglied der Ständigen Impfkommission, Stiko) zu. Er rechnet damit, dass es über den Sommer zumindest eine kurze Pause geben wird. „Die Pandemie kann aber im Herbst wieder zu einem Problem werden. Wir haben es noch selbst in der Hand“, sagt er auf RND-Nachfrage und verweist auf den Schutz durch die Booster-Impfung. Sollte das Virus in Zukunft vor allem im Winter das Gesundheitssystem belasten, könne er sich eine jährliche Auffrischungsimpfung immer im Spätherbst vorstellen.
Für eine schnelle Steigerung der Erst- und Booster-Impfungen müssten jedoch die Impfkapazitäten deutlich erhöht werden, so Überla. „Wenn wir genug Kapazitäten hätten, wäre eine Booster-Impfempfehlung für alle ab 18 Jahren möglich“, sagte er. Derzeit sieht die Stiko Booster-Impfungen jedoch nur für Menschen ab 70 Jahren, medizinisches Personal sowie Menschen mit Vorerkrankungen vor. Sie hat jedoch bereits angekündigt, ihre Empfehlung in Kürze zu aktualisieren.