Der Cell-Broadcast-Skandal: Die Hochwassertoten könnten noch leben
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/CUE7DQ5C7BC2PJSIIO2Y4Q5RVM.jpg)
Deutsche, in der falschen Richtung unterwegs: Autobahn 1 am 17. Juli in der Nähe von Erftstadt.
© Quelle: Getty Images
Ach, diese Brüsseler Bürokraten! Was haben sie sich jetzt wieder ausgedacht?
Man kennt solche Reflexe in den 27 Mitgliedsstaaten der EU, wenn wieder mal neue Vorgaben aus Brüssel kommen. So war es auch vor drei Jahren, im Fall der Richtlinie 2018/1972 zum „europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation“.
Das Dokument ist, zugegeben, schwere Kost. Viele Definitionen, Regeln, Ausnahmen und Gegenausnahmen erstrecken sich über 179 Seiten. Stets aber geht es am Ende um ein klar erkennbares Ziel: Schutz der Verbraucher, Schutz der Menschen, und immer bitteschön quer durch Europa.
Die Richtlinie regelt auch Fragen der öffentlichen Sicherheit. So wird in Artikel 109 der Richtlinie allen EU-Mitgliedsstaaten aufgegeben, gebührenfreie Anrufe bei der europaweit einheitlichen Notrufnummer 112 sicherzustellen.
Der völlig unbekannte Artikel 110
Sodann folgt Artikel 110 mit der Überschrift „Öffentliches Warnsystem“. Die meisten Europäer wissen gar nicht, dass Richtlinien zu diesem Thema bereits geltendes europäisches Recht sind – wenn auch die Umsetzung in nationales Recht wie immer noch einige Zeit dauern wird.
Durch Artikel 110 sind die EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, bis zum 21. Juni 2022 sicherzustellen, dass Mobilfunknetzbetreiber ihren Nutzern öffentliche Warnungen zu „drohenden oder sich ausbreitenden größeren Notfällen und Katastrophen“ übermitteln.
Die EU will mit Artikel 110 direkte Warnungen per Cell-Broadcast-Technik vorantreiben, wie sie etwa in Großbritannien („UK Alert“), den USA (“Wireless Emergency Alert“), Japan, Südkorea, Australien oder Israel seit Langem üblich sind.
Wenn in diesen Staaten eine Behörde die Menschen in einer bestimmten Region dringend warnen will, kann sie eine identische Nachricht an alle Mobiltelefonnutzer schicken, die sich gerade in der Region befinden – unabhängig davon, welche Apps der Nutzer installiert hat. Auch eine Internetverbindung ist unnötig.
So funktioniert die „digitale Sirene“
Das Verfahren ist simpel und datensparend. Der Mobilfunkbetreiber gibt die Nachricht nur einmal heraus, das Rundsendeverfahren (broadcasting) funktioniert dann ähnlich wie UKW-Radio in einem vorab definierten Gebiet. Es genügt, dass der einzelne Nutzer mit dem mobilen Netz seines Anbieters verbunden ist. Cell-Broadcast-Meldungen können mit einem lauten Warnton übermittelt werden – und dabei alle „Ruhe“- oder „Lautlos“-Einstellungen am Gerät durchbrechen. In Fachkreisen ist daher von einer „digitalen Sirene“ die Rede - deren unübertroffene Effizenz weltweit anerkannt ist. Mit Cell Broadcast werden, solange die akkubetriebenen Mobilgeräte laufen, auch Gebiete erreicht, in denen der Strom gerade schon ausgefallen ist.
In Japan wurden Cell-Broadcast-Systeme vor allem mit Blick auf Erdbeben und Tsunamis vorangetrieben, in Israel geht es auch um Warnungen vor Raketenangriffen. Zu den Vorgaben der japanischen Behörden an die Mobilfunkbetreiber gehört, dass die Weiterleitung einer Warnmeldung maximal vier Sekunden dauert.
Artikel 110 der EU-Richtlinie ließ – leider – in einem Absatz 2 ein kleines Hintertürchen für Warnapps offen, als mögliche Alternative zum Cell Broadcasting. Die Warnapps dürfen jedoch laut Richtlinie dauerhaft nur an die Stelle von Cell Broadcast treten, „sofern die Effektivität in Bezug auf Abdeckung und Kapazität zur Erreichbarkeit der Endnutzer, auch derjenigen, die sich nur zeitweilig in dem betreffenden Gebiet aufhalten, gleichwertig ist“.
Gutes Ziel: „EU Alert“ ab 2022
Von einer Gleichwertigkeit aber kann bei den deutschen Warnapps Katwarn und Nina nicht die Rede sein. Nur eine Minderheit der Deutschen lädt sie überhaupt runter. Zusammen erreichen die Warnapps rund 15 Prozent der Mobilfunknutzer. Glaubt jemand, es genüge, nur etwas mehr als jedem Zehnten Bescheid zu sagen, wenn Lebensgefahr droht?
Hinzu kommt: Ein zufällig gerade ins Katastrophengebiet gereister EU-Ausländer, etwa der Tourist aus Frankreich im Ahrtal, könnte nur per Cell Broadcast verlässlich gewarnt werden. Denn die Technik knüpft allein an die physische Präsenz in einer bestimmten Region an. Welche Apps der Tourist wann und in welchem Land geladen hat und wie sie funktionieren, ist egal.
Das Beispiel zeigt: Die am wenigsten bürokratische, europafreundlichste und am Ende auch effektivste Lösung für Warnsysteme ist Cell Broadcasting.
Damit fällt jetzt, drei Jahre nach ihrer Verabschiedung, ein neuer Blick auf die EU-Richtlinie 2018/1972. Der von Brüssel geplante einheitliche „EU Alert“, mit dem ab Juni 2022 jeder Mobiltelefonnutzer an jedem Ort in der EU gewarnt werden kann, wäre tatsächlich ein großer Fortschritt. Es geht um ein gutes Ziel – eins, das die Regierung in Berlin sich längst hätte zu eigen machen sollen.
„Sechsstelliger Schaden“ – Erftstädter zeigt Ausmaß der Zerstörung
Nach den verheerenden Überschwemmungen in Erftstadt zeigt ein örtlicher Hausbesitzer das Ausmaß des Schadens an seinem Haus.
© Quelle: RND
Deutschlands Sperrigkeit kostet Menschenleben
Es ist bedrückend, dass der Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Armin Schuster, erst jetzt aufwacht. „Mein Ziel ist es, über eine Machbarkeitsstudie festzustellen, ob eine Einführung von Cell Broadcast sinnvoll und realisierbar ist“, sagte er dem RND. Mit einem Ergebnis sei im Herbst zu rechnen. Bundesinnenminister Horst Seehofer sagte am Mittwoch, grünes Licht für das neue Warnsystem werde es wohl schon vor der Bundestagswahl am 26. September geben. Doch was so zupackend klingen soll, ist in Wahrheit ein Armutszeugnis.
Warum haben CDU/CSU und SPD in ihrer angeblich so europafreundlichen Koalition nicht schon seit der Verabschiedung der EU-Richtlinie vor drei Jahren längst alles getan, um Deutschland in diese Richtung zu bewegen? Stattdessen regierten die Berliner bislang nur mit verschränkten Armen auf Brüssels Cell-Broadcast-Plan.
„Une Europe qui protège“ forderte Emmanuel Macron einst in einer Grundsatzrede: ein Europa, das beschützt. Berlin aber scheint schon mit diesem Grundgedanken ein Problem zu haben. Immer wieder tritt Berlin bei Schutzvorschriften aller Art als Bremser in Erscheinung. Mal wurde die Umsetzung einer Verbraucherschutzrichtlinie im Tourismus verschleppt, mal wurde mit der von Brüssel erzwungenen Begrenzung von Feinstaub in den Innenstädten gewartet, bis es wirklich nicht mehr ging. Zuletzt bremste die Politik, als die Befristung für Verbrennermotoren zum Thema wurde.
Man könnte die deutsche Sperrigkeit beim Thema Cell-Broadcast-Warnysteme nun achselzuckend in diese Reihe stellen und sie als eine weitere europapolitische Dissonanz abtun, eine Sache für Fachleute.
Die Hochwasserkatastrophe im Ahrtal und an der Erft aber reißt das Thema in makaberer Weise heraus aus dem Kontext des vermeintlich Bürokratischen. Es mag zugespitzt klingen, aber es ist wahr: Viele am letzten Wochenende im Wasser gestorbene Menschen, wenn nicht alle, könnten möglicherweise noch leben, wenn Deutschland sich beeilt hätte, die EU-Richtlinie 2018/1972 schnell und optimal umzusetzen: mit Cell Broadcasting.
Kein einziger Toter in den Niederlanden
Die Niederlande haben das getan. Sie sind bereits mit einem nationalen Vorläufersystem für „EU Alert“ unterwegs. Das Cell-Broadcast-Warnsystem „NL Alert“ trug in diesen Tagen dazu bei, dass bei den jüngsten Überschwemmungen an der Maas kein einziger Mensch starb. Tausende Niederländer verließen vorab ihre Häuser, in Venlo wurde eine Klinik komplett vorab evakuiert. So weit man sieht, gab es nicht nicht mal einen Verletzten.
Die deutschen Behörden dagegen zählten bislang mehr als 160 Tote – und sind sich nicht sicher, wie viele noch dazu kommen. Nimmt man die Passivität Berlins bei der Umsetzung der EU-Richtlinie mit ins Bild, ergibt sich ein nicht nur blamabler, sondern skandalöser Gesamteindruck.
Fluten erleben wir hier nach wie vor, aber wir sterben darin nicht mehr.
Saleemul Huq,
Direktor des Internationalen Zentrums für Klimawandel und Entwicklung (ICCAD)
160 Tote? Durch kleine Bäche, deren Anwachsen mit Abständen von zwölf Stunden ziemlich präzise vorhergesagt werden kann?
Weltweit, bis nach Bangladesh, erregt dies alles neben Mitleid auch Erstaunen. Dass ein so reiches Land wie Deutschland nicht längst Cell-Broadcast-Warnsysteme nutzt, verstehe er nicht, sagt der Klimaforscher Saleemul Huq, Direktor des Internationalen Zentrums für Klimawandel und Entwicklung (ICCAD) mit Sitz in Dhaka, in einem Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. In Bangladesh erreiche man auf diese Art inzwischen fast jeden Erwachsenen: „Fluten erleben wir hier nach wie vor, aber wir sterben darin nicht mehr.“