Wachsende Kritik am britischen Premier

Regierungskrise spitzt sich zu: Über 40 Abgeordnete treten zurück – Johnson klebt am Amt

Für Großbritanniens Premierminister Boris Johnson wird es langsam eng.

Für Großbritanniens Premierminister Boris Johnson wird es langsam eng.

London. Der britische Premierminister Boris Johnson will trotz der immer lauter werdenden Rücktrittsforderungen aus seinem Kabinett und seiner Partei nichts von einem Rücktritt wissen. Sollte er gehen, werde es „Chaos“ geben, zitierte ihn die Nachrichtenagentur PA unter Berufung auf einen Vertrauten des Regierungschefs. In der Downing Street 10 ging die Serie von Rücktritten unterdessen weiter: Mit dem Staatssekretär für Wales, Simon Hart, nahm am Mittwoch das dritte Kabinettsmitglied seit Wochenbeginn seinen Hut. Man habe den Punkt überschritten, an dem es noch möglich gewesen wäre, „das Ruder herumzureißen“, erklärte Hart.

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Britischer Premierminister Johnson zeigt keine Anzeichen für Rücktritt

Die Aufgabe eines jeden Premierministers, der ein starkes Mandat erhalten habe, sei weiterzumachen, sagte Boris Johnson am Mittwoch.

Aus Protest gegen den Schlingerkurs des Premiers trat Rishi Sunak am Dienstagabend als Finanzminister zurück, Gesundheitsminister Sajid Javid tat es ihm gleich, rund 40 Staatssekretären und Mitarbeiter legten ihre Ämter danach ebenfalls nieder. Viele Minister kritisierten Johnson bei ihrem Rücktritt scharf.

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Schulminister Robin Walker machte etwa die jüngsten Führungsdebatten zur Ursache seiner Amtsniederlegung. Der Minister für Schulstandards sagte, die Konservative Partei sei „von ihren Kernaufgaben abgelenkt worden“. Fehler und Zweifel an Johnsons Integrität hätten vergangene Erfolge in den letzten Monaten zunichte gemacht. Auch Alex Chalk, der Generalstaatsanwalt für England und Wales hat aus Protest gegen die Regierungsführung Johnsons sein Amt niedergelegt.

In seiner am Dienstagabend auf Twitter veröffentlichten Erklärung schreibt Chalk, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fähigkeit der Regierung, die von der britischen Regierung erwarteten Standards der Offenheit aufrechtzuerhalten, unwiderruflich zerbrochen sei. Als Gründe führte er den Partygate-Skandal und den Umgang mit den Anschuldigungen im Zusammenhang mit Vorwürfen des sexuellen Fehlverhaltens gegen ein Mitglied der Regierung an.

„In einer Zeit, in der unser Land vor großen Herausforderungen steht, in der das Vertrauen in die Regierung selten so wichtig war, ist die Zeit für eine neue Führung leider gekommen“, heißt es in der Erklärung.

Minister-Nachfolge steht bereits fest

Kurz nach den aufsehenerregenden Rücktritten seiner Minister für Finanzen und Gesundheit hat der britische Premierminister zwei Getreue zu deren Nachfolgern ernannt. Steve Barclay folge auf den bisherigen Gesundheitsminister Sajid Javid, teilte Johnsons Büro am Dienstagabend mit. Der aktuelle Bildungsminister Nadhim Zahawi übernehme das Amt des Finanzministers, das bislang Rishi Sunak bekleidet hatte. Zahawi hat Johnson in der schweren Regierungskrise in Schutz genommen. Der konservative Regierungschef sei integer und „entschlossen, zu liefern“, sagte Zahawi am Mittwoch dem Sender Sky News.

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Auch Sunak und Javid hatten in ihren Rücktrittserklärungen harsche Kritik an Johnson geübt. Dem Premier wird vorgeworfen, im Zusammenhang mit Vorwürfen der sexuellen Belästigung gegen den stellvertretenden Fraktionsgeschäftsführer Chris Pincher gelogen zu haben. Pincher soll zwei Männer begrabscht haben.

Rücktritte in Großbritannien: Finanz- und Gesundheitsminister verabschieden sich von ihren Ämtern

Sunak und Javid veröffentlichten ihre jeweiligen Schreiben fast zeitgleich auf Twitter und gaben bekannt, von ihren Ämtern zurückzutreten.

Johnsons Büro habe zweimal die Unwahrheit darüber gesagt, was der Regierungschef über die Vorwürfe gegen Pincher wusste, schrieb der frühere britische Staatssekretär Simon an die Beauftragte für die Einhaltung parlamentarischer Standards. Auch andere führende Abgeordnete der Konservativen Partei kritisierten Johnsons Verhalten. Nach einer Reihe von Skandalen, unter anderem um Partys in seinem Amtssitz während der Corona-Lockdowns, gerät der Premierminister nun zusätzlich unter Druck.

Johnson will weitermachen

Trotz der scharfen Kritik aus den eigenen Reihen macht der britische Premierminister derzeit keine Anstalten, von seinem Amt zurückzutreten. Die Aufgabe eines jeden Premierministers, der ein starkes Mandat erhalten habe, sei weiterzumachen, sagte Johnson am Mittwoch. „Und das ist, was ich tun werde.“

Was Boris nicht lernt, lernt Johnson nimmermehr – die lange Skandalliste des britischen Premiers

Der britische Premier Boris Johnson steht wieder mal mächtig in der Kritik. Wegen der aktuellen Belästigungsaffäre in seiner Partei fordern nun zahlreiche Abgeordnete seinen Rücktritt. Die Liste der Johnson-Affären ist lang, wird ihm diese nun zum Verhängnis? Ein Überblick über seine größten Skandale.

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Zum Auftakt der traditionellen Befragung des Regierungschefs im Parlament wies Johnson darauf hin, dass am Mittwoch eine große Steuersenkung für Familien in Kraft getreten sei. „Heute ist ein wichtiger Tag“, sagte Johnson. Kommentatoren deuteten dies als Zeichen, dass der konservative Politiker seine Arbeit fortsetzen will.

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Johnson entschuldigte sich allerdings erneut dafür, dass er seinen Parteifreund Chris Pincher in ein wichtiges Fraktionsamt gehievt hatte, obwohl er von Vorwürfen der sexuellen Belästigung wusste. Er habe aber sofort gehandelt, als er von neuen Anschuldigungen gegen Pincher erfahren habe, behauptete der Premier.

„Konservative haben endgültig die Geduld mit ihrem Anführer verloren“

Nach Ansicht des Politologen Mark Garnett, stehen die Zeichen in der Konservativen Partei des britischen Premierministers Boris Johnson auf Sturm: „Konservative Abgeordnete haben endgültig die Geduld mit ihrem Anführer verloren, der für die Wähler immer schnell zu einer verachtenswerten Figur wird“, sagte der Wissenschaftler von der Universität Lancaster der Deutschen Presse-Agentur in London. Johnson werde aber nicht aufgeben.

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Wenn der 58-jährige Premier inmitten einer schweren Wirtschaftskrise und angesichts drängender Fragen zu seiner persönlichen Integrität hinwerfe, werde er als einer der schlechtesten Regierungschefs der Geschichte gelten, sagte der Experte. „Das macht es sehr unwahrscheinlich, dass er zurücktritt. Seine Partei wird ihn aus der Downing Street herauszerren müssen.“

Garnett erwartet, dass die Fraktion schon bald gegen Johnson vorgehen wird. So stehen in der kommenden Woche Wahlen zu einem einflussreichen Komitee an, das über ein parteiinternes Misstrauensvotum entscheidet. Johnsons Gegner würden vermutlich hier die Kontrolle übernehmen und die Regeln so ändern, dass bald eine weitere Abstimmung über den Premier möglich sei, sagte der Politologe. Zugleich wies er darauf hin, dass kein potenzieller Nachfolger in Sicht sei.

Britische Medien scheinen sicher: „Game Over“ für Johnson

Auch britische Zeitungen sehen Johnson vor dem Aus. Der Regierungschef stehe nach knapp drei Jahren Amtszeit am Abgrund, titelten am Mittwoch gleich mehrere Blätter. Johnsons Zukunft hänge an seidenem Faden, schrieb die Zeitung „Telegraph“.

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Die konservative „Times“ forderte in ihrem Leitartikel den Premierminister auf, zum Wohle des Landes zurückzutreten - „Game over“, das Spiel sei aus. „Jeder Tag, den er im Amt bleibt, verstärkt das Chaos“, so die „Times“. Johnson habe keine Autorität mehr.

RND/ao/AP/dpa

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