Black Lives Matter: So bringen zwei junge Frauen Hunderttausende auf die Straße
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Nadia Asiamah, Initiatorin der Stuttgarter Silent Demo.
© Quelle: Christoph Schmidt/dpa
Berlin. In acht Minuten und 46 Sekunden hat sich das Leben von Perla Londole verändert. Acht Minuten und 46 Sekunden lang schaute die 22-jährige Jurastudentin aus Mainz zu, wie George Floyd in Minneapolis starb, wie er um sein Leben flehte, nach seiner Mutter rief. Sie sah, wie der weiße Polizist sein Knie nicht aus dem Nacken des Afroamerikaners nahm.
Die Mainzerin schaute das Video wieder und wieder an. “Ich konnte mitzählen, wie lange er noch zu leben hatte”, erzählt sie im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). “Ich bin nicht gerade nah am Wasser gebaut, aber das hat mich wirklich persönlich mitgenommen.”
Londole ist nicht nur Studentin, sondern auch Youtuberin und stark auf Instagram aktiv. Da lag es nur nahe, dass sie ihrer Wut, ihrer Trauer und ihren Gedanken in den sozialen Netzwerken Luft machte. “Ich will etwas organisieren”, schrieb sie. So fing es an.
In Stuttgart hatte Nadia Asiamah eine ganz ähnliche Idee. Ein stiller Protest schwebte ihr vor, mehr ein Flashmob als eine Demonstration. 20, 30 Leute, ganz in Schwarz gekleidet, schweigend, mit Plakaten. Eine Silent Demo eben.
Auch Asiamah ist 22 Jahre alt, auch sie tummelt sich auf Youtube und Instagram, macht dort witzige, persönliche Filme über ihren Alltag für ein paar Hundert Zuschauer. Politisch aktiv war keine der beiden Frauen. Und keine von ihnen hätte sich träumen lassen, eine knappe Woche nach ihrer ersten Idee vor Zehntausenden von Menschen zu stehen – Nadia am vergangenen Samstag in Stuttgart und Perla in Mainz – und die größten Demonstrationen dieses Jahres organisiert zu haben. In mehr als 20 Städten demonstrierten wahrscheinlich mehr als 200.000 Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt.
Eine Instagram-Revolution, die ihre Organisatorinnen überrollt
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Perla Londole, eine Organisatorin des Protests.
© Quelle: privat
Ihre erste Nachricht hatte auf Instagram bald 40.000 Likes, und als es nach dem Pfingstwochenende konkret wurde, kamen ihre sozialen Netzwerke an den Rand der Belastungsgrenze. Ebenso wie die jungen Frauen selbst. Geschlafen haben sie in den Tagen vor ihrer ersten Demonstration kaum noch. Und nach dem Wochenende ging es nahtlos weiter. “Das war erst der Anfang” und “Wir sind noch nicht fertig”, betitelten Londole und Asiamah ihr neuestes Video.
Fast überall waren diese Demos organisiert von jungen Afrodeutschen wie Londole und Asiamah. In Hamburg zum Beispiel hat die 20-jährige Schauspielerin Audrey Boateng die Demonstration angemeldet, auch für sie war es eine Premiere. Und auch sie war überwältigt und am Ende überfordert von den Massen, die gegen Rassismus auf die Straße gingen. “Es sollte nie wirklich eine große Demo werden”, erzählt sie dem RND. An Abstandsgebote war nirgendwo mehr zu denken.
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Auch Audrey Boateng organisierte eine Demonstration.
© Quelle: privat
Warum aber geschieht das gerade jetzt? Warum hat der Tod von George Floyd im weit entfernten Minneapolis in Deutschland Massenproteste ausgelöst, die es nach dem bis heute ungeklärten Tod von Oury Jalloh 2005 in einer Dessauer Arrestzelle nicht gab? Die es nach der Selbstenttarnung der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nicht gab, auch nicht nach dem rechtsterroristisch motivierten Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor einem Jahr?
Nicht nach den Morden im Münchner Olympia-Einkaufszentrum 2016, als der Täter seine Opfer nach ihrem Aussehen auswählte? Nicht nach den neun Toten in den Hanauer Shishabars im Februar?
Und was wird von dieser einmaligen Kundgebung bleiben? “Es gibt in der Bevölkerung eine Grundstimmung, die auf Veränderungen drängt”, sagt der Berliner Bewegungsforscher Dieter Rucht. “Ich bin meistens eher skeptisch, was die Langlebigkeit von Bewegungen angeht. Aber wir sind an einem Punkt angekommen, an dem die Brücken zwischen einzelnen Themen und einzelnen Organisationen stärker werden.”
Am Sonntag wird wieder demonstriert
Am Sonntag wird wieder in bisher elf deutschen Städten demonstriert. Die Organisation Unteilbar, die schon 2018 mehr als 200.000 Menschen in Berlin auf die Straße brachte, will ein kilometerlanges “Band der Solidarität” durch Berlin und andere Städte ziehen. Der Kampf gegen Rassismus ist dort ein zentrales Thema, aber nicht das einzige.
Wann die nächsten Silent Demos stattfinden, wollen Londole und Asiamah noch nicht bekannt geben. Ohnehin denken sie auch über andere Aktionsformen nach. An – naheliegend – Youtube-Videos zum Beispiel. “Ich würde gerne ein Video mit einem Polizisten machen”, plant Londole, “damit ich erklären kann, was die Polizei darf und was nicht. Viele schwarze Menschen haben Angst vor der Polizei, trauen sich nicht, sie zu rufen. Ich will die Polizei nicht schlechtreden, aber ich will aufklären.”
Protestler berichten: „Ich will Gerechtigkeit, Frieden und Veränderung“
An vielen Orten der Welt gehen die Menschen derzeit auf die Straße, um gegen Polizeigewalt zu demonstrieren.
© Quelle: Reuters
Führen sie den Kampf der Afrodeutschen - oder aller Minderheiten?
Die Hamburger Demoorganisatorin Audrey Boateng will da noch weitergehen. Im Gegensatz zu Londole und Asiamah ist sie bereits seit Jahren politisch aktiv, ist immer wieder bei Anti-Rassismus-Demos mitgelaufen. “George Floyd war ein Auslöser, aber nicht der Grund, warum ich auf die Straße gegangen bin”, sagt sie dem RND.
Sie will “für alle ein Zeichen setzen, die von Rassismus betroffen sind, für alle Menschen mit Migrationshintergrund”. Londole hingegen möchte zunächst das Bewusstsein der Afrodeutschen stärken. “Wenn wir uns mit anderen zusammentun, kann das schnell ein Durcheinander ergeben”, befürchtet sie.
In einem Punkt aber sind sich beide einig: Den Kampf gegen Rassismus sehen sie als Kampf ihrer Generation. “Rassismus ist Alltag in Deutschland, aber es gibt so viele Möglichkeiten, sich zu bilden und ihn zu überwinden”, meint Boateng. Und Londole sagt: “Wenn wir frühzeitig anfangen aufzuklären, kann unsere Generation vieles bewirken.”