Bitte endlich groß denken bei der Bahn
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Ein Schild „Klimaanlage defekt - Bitte benutzen Sie einen anderen Wagen“ hängt in einem Wagen des von München nach Berlin fahrenden ICE 1002.
© Quelle: Roland Freund/dpa
Berlin. "Wenn Jemand eine Reise tut, kann er was verzählen", wusste schon der Dichter Matthias Claudius im 18. Jahrhundert. Wer in diesen Tagen mit der Bahn unterwegs ist, sei es auf den Weg in den Urlaub oder eben zurück, kann tatsächlich eine Menge berichten: Von Klimaanlagen, die den Geist aufgeben, von ganzen Waggons, die deshalb mit Flatterband abgesperrt werden. Oder von Intercity-Fenstern, die sich nicht öffnen lassen, von heillos überfüllten ICEs und Zügen, die entweder ganz ausfallen oder wegen der Hitze plötzlich nicht mehr weiterfahren können.
Kurz: Es herrschen – derzeit zumindest - dramatische Zustände auf der Schiene. Das Hitze-Chaos ist für viele, die sich in diesem Jahr womöglich unter dem Eindruck der allgegenwärtigen Klimadebatte für die Urlaubsfahrt mit dem Zug entschieden haben, alles andere als eine Ermutigung, es wieder zu tun. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei der Bahn eben noch Welten. Das Unternehmen tut sich schwer, ein Mindestmaß an Komfort und Verlässlichkeit zu gewährleisten.
Die Versäumnisse der Vergangenheit
Auch die zusätzlichen Reisenden, die Politiker wie CSU-Chef Markus Söder nun mit einer verringerten Mehrwertsteuer auf Fernverkehrstickets anlocken wollen, dürften diese Erfahrung machen, wenn diese Entlastung denn tatsächlich kommt. Bereits jetzt verzeichnet der Konzern trotz aller Qualitätsdefizite einen Fahrgastrekord nach dem anderen.
Das eigentliche Problem sind die Versäumnisse der Vergangenheit, die sich rächen. Zu lange ist auf Verschleiß gefahren worden. Es fehlt an Zügen und an Personal für deren Wartung. In diesen Sommertagen wird dies besonders spürbar. Die Infrastruktur ist marode. Der Investitionsstau in Deutschlands bestehendem Schienennetz beläuft sich bereits heute auf knapp 60 Milliarden Euro.
Keine schnelle Entlastung
Die Bahn kann, die Bahn muss die entscheidende Rolle bei der notwendigen Mobilitätswende spielen. Fit für diese Herausforderung ist sie – Stand heute – keinesfalls. Das jetzt vereinbarte 86-Milliarden-Euro-Programm zum Erhalt von Schienen und Brücken, das bislang größte seiner Art, ist immerhin ein guter Anfang. Schnelle Entlastung ist jedoch nicht zu erwarten.
Die Umsetzung wird XXL-Baustellen mit sich bringen, die mutmaßlich zu weiteren Verzögerungen im ohnehin schon chronisch schwierigen Betriebsablauf führen werden. Es scheint, als müsse es bei der Bahn erst einmal schlechter werden, bevor es besser werden kann. Und natürlich bleiben Zweifel, ob die Milliardensumme am Ende ausreichen wird, um 33 000 Kilometer Schienennetz in Stand zu setzen.
Die neue Finanzierungsvereinbarung für die Bahn ist ohne jeden Zweifel wichtig – und sie war überfällig. Niemand sollte sich jedoch Illusionen machen. Sie dient einzig und allein dazu, den Status quo abzusichern. Konzernchef Richard Lutz weiß allzu genau, dass dies nicht ausreichen wird. „Starke Schiene“ heißt die von ihm entworfene neue Bahn-Strategie. Doch stark wird die Schiene in Zukunft nur mit mehr Kapazität sein. Voraussetzung dafür sind eine rasche Digitalisierung des Netzes, was engere Zugfolgen ermöglicht, sowie eine Neubau-Offensive.
„Think big“ und „Schiene first“
Beides zusammen geht weit über das hinaus, was dem Konzern, dessen Schulden angesichts eines auf Kante genähten Finanzplans weiter zu steigen drohen, an Mitteln zur Verfügung stehen wird. Think big, groß denken – das ist das, was bei der Bahn jetzt unbedingt gebraucht wird. Und in den Verkehrsetats von Bund und Ländern müsste eine klare Prioritätensetzung her: Schiene first. Glücklicherweise zeichnet sich inzwischen ein gewisses Umdenken in Politik und Gesellschaft ab – auch deshalb, weil die „Generation Greta“ es beharrlich einfordert.
Klimaschutz bei der Mobilität verlangt nicht nur einen verlässlichen Fernverkehr, der für die Kunden finanziell attraktiver ist als Inlandsflüge. Notwendig ist auch, das vorhandene Potenzial für die Verlagerung von Gütern auf die Schiene endlich zu nutzen. Ganz zu schweigen vom Handlungsbedarf, der im Nahverkehr unverändert besteht. Wenn wir es wirklich ernst meinen mit der CO2-Vermeidung, muss die Bahn nicht nur in Urlaubszeiten zur echten Alternative werden. Sie sollte es auch für Millionen Berufspendler sein, die lieber heute als morgen aufs Auto und auf den Stau verzichten würden.
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Von Rasmus Buchsteiner/RND