Bewegender Brief an die Deutschen: „Erzählen Sie von Raniuscha!“

Familiengeschichte: Sarah Berman-Lerner und ihre Familie.

Familiengeschichte: Sarah Berman-Lerner und ihre Familie.

Berlin. Kurz vor ihrem Tod mit 95 Jahren, mehr als ein halbes Jahr nach dem Schlaganfall, der ihre Erinnerungen fast auslöschte, fragte Sarah Berman-Lerner ihren Sohn David: „Wo sind meine Eltern? Wo sind meine Geschwister?“ Vier Geschwister hatte sie, damals in Warschau. Ihr Bruder heiratete kurz vor Kriegsausbruch in Kielce. Die älteste Schwester ehelichte ihren Mann dann im Warschauer Getto.

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Wo sind Vater Yeshajahu und Mutter Chana-Malka, wo ist Mordechai, wo sind die Schwestern Tola und Guta, wo ist die kleine Rivka, die alle Raniuscha nennen?

„Weißt du nicht mehr, Mutter? Die Deutschen haben sie alle umgebracht“, antwortete David, und dann weinte die alte Dame.

Jetzt, ein paar Monate nach ihrem Tod, findet David Berman Trost in diesem Moment. Ein bisschen war es am Krankenbett, als sei ihre Familie wieder bei ihr gewesen, als habe es die Vernichtung nie gegeben.

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„Wir haben eine ganze Welt verloren“

„Wir haben eine ganze Welt verloren“ im Holocaust, sagte Sarah Berman-Lerner vor zwei Jahren. Man kann ein Video der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem aufrufen, dort spricht sie über die Vergangenheit in Polen vor dem Krieg. Und sie spricht über ihre Entscheidung, das Land nach der Befreiung zu verlassen. „Nach dem Krieg war Polen ein einziger großer Friedhof.“

Sarah, geborene Goldglas, wuchs in einer traditionellen jüdischen Familie in der polnischen Hauptstadt auf, ihr Vater war Wollhändler. 1940 zwangen die deutschen Besatzer die Warschauer Juden ins Getto. Sarahs Vater wurde 1942 deportiert, Mutter und Töchter versteckten sich in einem Bunker. Während des Warschauer Gettoaufstands wurden sie entdeckt. Guta, die große Schwester, weigerte sich, den Bunker zu verlassen. Er wurde gesprengt.

„Lasst Mutter nicht allein, Einsamkeit ist schlimmer als der Tod“

Die Mutter wurde mit ihren Töchtern Sarah und Rivka in einen Güterwaggon getrieben, der Zug brachte sie ins Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek.

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Bundespräsident Steinmeier zu Besuch in Israel
01.07.2021, Israel, Jerusalem: Bundespr��sident Frank-Walter Steinmeier wird von Naftali Bennett (r), Ministerpr��sident des Staates Israels, empfangen. Der Bundespr��sident h��lt sich f��r einen dreit��gigen Staatsbesuch in Israel auf. Foto: Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Während seines Besuchs kam der Bundespräsident auch auf den andauernden palästinensisch-israelischen Konflikt zu sprechen.

„Lasst Mutter nicht allein, Einsamkeit ist schlimmer als der Tod“, hatte der Vater gesagt, bevor er abgeholt wurde. In Majdanek war es dann die Mutter, die entschied, ihre Jüngste nicht allein zu lassen, und ging mit ihr ins Gas. Raniuscha „lächelte, und ihr Gesicht leuchtete vor Freude. Sie sahen die Öfen und wussten, dass sie in den Tod gingen.“ Allein war nun Sarah.

Nach einer Odyssee durch Zwangsarbeitslager wurde sie im Januar 1945 in Tschenstochau von der Roten Armee befreit. 1946 emigrierte sie nach Israel. „Aus Europa hatte sie nichts“, sagt ihr Sohn, „keinen Besitz, keine Fotos, keine Erinnerungsstücke.“ Sie sucht in Israel bei Freunden ihrer Eltern und Geschwister nach Fotos, Briefen, Dokumenten. Von allem findet sie etwas, und seien es ein paar Zeilen in ihrer Handschrift. Von Rivka, von der kleinen Raniuscha, findet sie nichts. Die kleine Schwester, die an der Hand ihrer Mutter ins Gas ging, bleibt verschwunden. Sarah aber will die Erinnerung an Raniuscha weitertragen.

Der Vater kam aus Altenburg

„Familie war ihr sehr wichtig“, sagt ihr Sohn David. In Israel lernte Sarah Zvi Berman kennen, so nannte er sich in der neuen Heimat. Als Hermann Habermann wurde er im thüringischen Altenburg geboren, sein Vater ist Gründer und Vorsitzender der jüdischen Kultusgemeinde der Stadt. 1936, unter dem Druck der nationalsozialistischen Ausgrenzung und Verfolgung, emigrieren die Habermanns nach Israel. „Für meinen Vater war die deutsche Kultur sehr wichtig, sie war Heimat für ihn“, sagt David Berman. „Für meine Mutter war alles Deutsche eine Erinnerung an den Verlust ihrer Familie.“ Lange hielt die Ehe dieser sehr unterschiedlichen Emigranten nach Israel nicht.

Sarah Anfang der 1950er-Jahre mit ihrem Mann Zvi Berman auf einem Rummel in Israel.

Sarah Anfang der 1950er-Jahre mit ihrem Mann Zvi Berman auf einem Rummel in Israel.

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David Berman arbeitet für eine Hightechfirma, mehrere Male war er auf Dienstreisen in Dresden. „Ich hatte große Schwierigkeiten damit, nach Deutschland zu reisen“, sagt er. „Doch ich habe sie überwunden. Das Deutschland von damals ist nicht mehr das Deutschland von heute.“

Am Ende ihres Lebens hatte sie wieder eine Großfamilie

Fünf Kinder hat David Berman, zusammen mit Schwiegersöhnen und Enkeln lebte seine Mutter in den vergangenen Jahren wieder im Kreise einer Großfamilie – drei Generationen, nachdem sie alle Angehörigen verloren hat.

Nach ihrem Tod hat die Familie ein Vermächtnis zu erfüllen: 2007 schrieb Sarah Berman-Lerner einen Brief, über diese Minuten in Majdanek, über Raniuscha, über das zerstörte jüdische Warschau ihrer Erinnerung, über die Deutschen damals und das Deutschland heute. Sie trug den Brief jedes Jahr im Familienkreis am Holocaustgedenktag Jom haScho’a vor. Nach ihrem Tod sollte er veröffentlicht werden, in einer deutschen Zeitung, wünschte sie sich.

Diesen Wunsch erfüllen wir ihrer Familie, um die Erinnerung an Raniuscha und das Gedenken an die Opfer der Verbrechen der Deutschen während des Nationalsozialismus aufrechtzuerhalten.

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--- Der Brief im Wortlaut:

„Betreff: Damit wir nicht vergessen

Am 5. Mai 1943 sah ich meine kleine Schwester Raniuscha zum letzten Mal. Sie war 14 Jahre alt, sah wegen ihrer sehr schlanken Figur aber aus wie ein junges Mädchen.

Raniuscha hatte zwei blonde Zöpfe, sie war ein hübsches Mädchen, intelligent, glücklich und froh. Als wir in Majdanek aus dem Zug stiegen, wurde sie von uns getrennt, Mutter und ich gingen auf eine Seite und Raniuscha auf die andere. Sie sah so verloren und traurig aus. Wir sahen sie für einen Moment an, und plötzlich wechselte Mutter auf die andere Seite und stand bei ihr.

Ich sah, wie Raniuscha Mutter umarmte, sie lächelte, und ihr Gesicht leuchtete vor Freude. Sie sahen die Öfen und wussten, dass sie in den Tod gingen. Polen sagten uns: „Dort verbrennen sie Juden.“ Und so gingen sie beide mit Hunderten von gedemütigten, geschlagenen und fast verhungerten Menschen, von bewaffneten Deutschen und Hunden begleitet, in die Gaskammern in Majdanek. Das Gesicht meiner Schwester blieb in mein Gedächtnis eingebrannt.

Ich war zwar erst sieben Jahre alt, aber ich erinnere mich sehr gut an das Freudengeschrei der Deutschen, als Hitler 1933 an die Macht kam. Damals wie heute kann ich es nicht verstehen, wie ein aufgeklärtes Volk, eine Kulturnation wie Deutschland, einen solch unverzeihlichen Völkermord verüben konnte.

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Ich komme aus Warschau, es war das Zentrum des jüdischen Lebens in Polen. Die Warschauer Juden waren in allen Lebensbereichen tätig: Medizin und Forschung, dem Studium der Thora, Handwerk und Handel, Bildung und Lehre. Die jüdische Welt der Vorkriegszeit war ein Modell für eine menschliche und humanistische Gesellschaft. Es gab kein jüdisches Kind, das wegen Armut nicht zur Schule ging, es gab keinen Juden, der hungrig blieb, und es gab keinen Juden, der medizinische Behandlung brauchte und diese nicht erhielt.

Die Deutschen, die sich die Freiheit nahmen, unser Volk zu ermorden, vernichteten in den Gaskammern und Brennöfen menschliches Potenzial, das niemals zurückkehren wird. Heute, da Berlin wieder die Kultur- und Bildungshauptstadt Europas wird, appelliere ich an die deutsche Nation: Bringen Sie Ihren Kindern bei, wie das deutsche Volk den Mord an Millionen von Menschen herbeigeführt hat. Bringen Sie ihnen ein wenig über die Kultur und das Erbe bei, die sie zerstört haben, und erzählen Sie ihnen von einem Mädchen, von der keine Spur übrig geblieben ist, kein Bild, kein Grab, kein Brief – nichts. Erzählen Sie ihnen von meiner kleinen Schwester Raniuscha.

Mit bestem Gruß Sarah Berman-Lerner aus dem Hause Goldglass und Glickson.“

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