Bertelsmann-Studie zu Zukunftsfragen: Deutsche sind sich einiger als häufig angenommen
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Die bundesweite Demonstration und Kundgebung der Fridays-for-Future-Bewegung. Die deutsche Gesellschaft ist differenzierter als häufig dargestellt und die Diagnose einer Spaltung in zwei Lager greift zu kurz. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung.
© Quelle: imago images/Ralph Peters
Berlin. Die deutsche Gesellschaft ist differenzierter als häufig dargestellt und die Diagnose einer Spaltung in zwei Lager greift zu kurz. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung.
Die Studie „Wie Werthaltungen unsere Einstellungen zu gesellschaftlichen Zukunftsfragen bestimmen“ liegt dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vor.
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Das Team um die Studienleiter Yasemin El-Menouar und Kai Unzicker untersuchte dabei die Positionen zu den Themen Klimawandel, Vielfalt und Gerechtigkeit in sieben unterschiedlichen Milieus. Sie seien in Deutschland etwa gleich stark und quer durch die Gesellschaft in allen Alters-, Bildungs- und Einkommensschichten vertreten:
Die untersuchten Milieus
- Kreative Idealisten und Idealistinnen (stehen stark für die Werte Gleichheit, Pluralität und Nachhaltigkeit ein und verstehen sich als Avantgarde, die meinungsstark einen an diesen Idealen orientierten gesellschaftlichen Wandel vertritt oder sogar fordert; Parteipräferenz: keine),
- Bescheidene Humanisten und Humanistinnen (treten sehr viel moderater auf, stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück – Bescheidenheit ist für sie ein wichtiger Wert; Parteipräferenz: Die Grünen),
- Individualistische Materialisten und Materialistinnen (legen Wert auf Wohlstand und Konsum – sie möchten sich etwas leisten können und auf niemanden angewiesen sein; Parteipräferenz: AfD),
- Unbeschwerte Beziehungsmenschen (Zugehörigkeit ist für sie wertvoller als individuelle Entfaltungsmöglichkeiten; Parteipräferenz: CDU, SPD, auch AfD),
- Sicherheitsorientierte Konservative (legen Wert auf die Bewahrung bewährter Zusammenhänge und Strukturen, für das Gemeinwohl übernehmen sie gern Verantwortung; Parteipräferenz: SPD, Die Linke, FDP),
- Leistungsorientierte Macher und Macherinnen (Erfolg und Anerkennung sind sehr wichtig – dabei sind sie konservativ eingestellt, Traditionswahrung und ein ethisch einwandfreies Verhalten haben für sie einen hohen Wert; Parteipräferenz: CDU) und
- Unkonventionelle Selbstverwirklicher und Selbstverwirklicherinnen (orientieren sich an postmateriellen Werten und lehnen ein an materiellen Gütern und Konsum orientiertes Leben ab; Parteipräferenz: Die Linke).
Satte Mehrheit befürwortet Vielfalt
Die Forschenden haben herausgefunden, dass sich in allen drei Themenkomplexen eine Bandbreite an Positionen identifizieren lässt. Es seien nicht immer die gleichen Personen, die gegensätzliche Meinungen vertreten würden.
Eine Ausnahme bilden die Materialisten und Materialistinnen, die mehrheitlich die AfD als „ihre“ Partei präferieren: Sie haben fast durchgängig eine andere Sicht auf bestehende Herausforderungen als die Mehrheit der Bevölkerung.
„Tatsächlich stehen sich also nicht zwei gleich starke oder große gesellschaftliche Gruppen gegenüber“, so die Autoren und Autorinnen, „sondern das relativ kleine (rund 10 Prozent der Befragten umfassende) Lager der Materialisten und Materialistinnen und eine satte Mehrheit, die trotz unterschiedlicher Werthaltungen ein gemeinsames Grundverständnis von Gesellschaft teilt, Vielfalt befürwortet und den Leistungs- ebenso wie den Solidaritätsgedanken hochhält.“
Wandel notwendig
In allen Wertemilieus geben die Befragten mehrheitlich an, dass es eines tiefgreifenden gesellschaftlichen und sozialen Wandels bedarf, um den Klimawandel und seine Auswirkungen langfristig zu bewältigen.
Allein im Milieu der Materialisten und Materialistinnen sind die Veränderungsbereiten nicht in der Mehrheit – nur vier von zehn Befragten stimmen hier dieser Aussage zu. Hingegen sind knapp 40 Prozent der Materialisten und Materialistinnen der Ansicht, dass der Klimawandel ein natürliches Phänomen ist und die Natur sich selbst regeneriert.
Besonders überzeugt von der Notwendigkeit eines Wandels sind hingegen die Sicherheitsorientierten, die als Parteipräferenzen SPD, FDP oder Linke angeben.
Die Vielfalt der Gesellschaft wird lediglich von einer Minderheit der Befragten (2 Prozent) abgelehnt. Allerdings weichen die Vorstellungen, wie stark diese Vielfalt politisch gesteuert werden muss, erheblich voneinander ab. Es geht dabei um Grenzen der Offenheit.
Gesellschaft ist nicht gerecht
Während Idealisten und Idealistinnen und Humanisten und Humanistinnen diese weit fassen, plädieren Leistungsorientierte eher für eine engere Grenzsetzung, die sich an westeuropäischen Standards orientiert. 80 Prozent der Materialisten und Materialistinnen halten entweder nur eine „vertraute“ Vielfalt im westeuropäischen Rahmen für hinnehmbar oder sie erwarten eine Anpassung an eine „deutsche Leitkultur“.
Die beiden Prinzipien der Leistungs- und der Bedarfsgerechtigkeit – die in ihrer Verbindung für die soziale Marktwirtschaft stehen – werden von einer überwältigenden Mehrheit der Befragten geteilt. Mehr als die Hälfte der Befragten (57 Prozent) findet, dass die Gesellschaft eher nicht gerecht ist. Dem Glauben an eine „gerechte Welt“ hängen nur 43 Prozent aller Befragten an. Nur die Leistungsorientierten glauben stärker dran.
Insgesamt gebe es eine breite Veränderungsbereitschaft unter den Befragten – nicht nur, was eine Bewältigung des Klimawandels angeht. „Dies ist eine gute Voraussetzung für die Politik, gesellschaftliche Neujustierungen vorzunehmen“, schlussfolgern die Studienautorinnen und -autoren. „Auch die Pandemie ist in dieser Hinsicht ein Türöffner, wurde in ihr doch der Umgang mit Veränderungen eingeübt.“
Polarisierung täuscht
Und was ist mit der Polarisierung der Gesellschaft? Die kontroversen Debatten würden zwar wahrgenommen in den unterschiedlichen Wertemilieus. Ein Großteil fühle sich jedoch gut im gesellschaftlichen Diskurs repräsentiert, ergibt die Bertelsmann-Studie. Besonders überzeugt davon sind die Leistungsorientierten, von denen fast zwei Drittel denken, dass die meisten Menschen ihre Werte teilen.
Von den Materialisten und Materialistinnen glauben das lediglich 41 Prozent. Das Gefühl, eine Minderheit zu bilden oder Außenseiter zu sein, ist in diesem Milieu gegenwärtig. Zudem zeigen die Ergebnisse, dass die Materialisten und Materialistinnen selbst in ihrem privaten Umfeld Widerspruch spüren. Dies zusammengenommen berge die Gefahr der Radikalisierung in diesem Milieu, wird in der Studie gewarnt.
„Wenn in der Öffentlichkeit eine Polarisierung wahrgenommen wird, dann spiegelt sich darin eben diese Spannung zwischen dem relativ breiten demokratischen Grundkonsens, den wir in unserer Studie feststellen, und dem Milieu der Materialisten und Materialistinnen, die sich tendenziell gegen Veränderung stemmen, der offenen, vielfältigen Gesellschaft eher misstrauisch begegnen und auch in stärkerem Maße Ungerechtigkeit und Dissens wahrnehmen“, heißt es im Fazit. Mediale Diskurse verstärken diese Wahrnehmungen.
Weniger präsente Gruppen mitnehmen
Die „eigentlich relevante gesellschaftspolitische Auseinandersetzung“ innerhalb des demokratischen Spektrums findet offenbar in drei „tonangebenden“ Milieus statt: den Idealisten und Idealistinnen und – etwas zurückhaltender – den auf der einen Seite sowie den Leistungsorientierten auf der anderen Seite.
Während Idealisten und Idealistinnen und Humanisten und Humanistinnen für eine weitestgehend offene, klimabewusste und solidarische Politik plädieren, halten Leitungsorientierte eher am Status quo fest und bilden damit auch eine Brücke zu den Materialisten und Materialistinnen, vermerken die Studienautorinnen und -autoren. „Im Gegensatz zu diesen sind sich die Leistungsorientierten ihres Gewichtes bewusst, treten anders auf und sind offenbar eher in der Lage, ihre Meinung in den Diskurs einzubringen.“
Die Studie vermerkt ausdrücklich, dass Beziehungsmenschen weniger präsent sind. Primär liege ihnen an einer guten sozialen Einbindung, einem unbeschwerten Leben und dass sie in Ruhe gelassen würden. Das könne sich jedoch ändern, wenn sich Bedingungen zu ihren Ungunsten wandeln. Darum müssten in der anstehenden Verständigung über die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels auch darum gehen, Gruppen wie die Beziehungsmenschen besser einzubinden.
Studienmethode: Die Berechnung der Wertemilieus basiert auf 21 Fragen zu persönlichen Wertvorstellungen nach Shalom Schwartz sowie auf zehn Fragen zu Persönlichkeitseigenschaften in Anlehnung an das Big-Five-Modell. Die Antworten auf die insgesamt 31 Fragen wurden in einem mehrstufigen statistischen Analyseverfahren geprüft. So konnten empirisch sieben Wertemilieus identifiziert werden. Die Datengrundlage bildet eine repräsentative Bevölkerungsbefragung, die in der letzten Novemberwoche 2020 in Deutschland stattfand. Das Norstat Institut hat im Auftrag der Bertelsmann Stiftung im Rahmen einer Onlinebefragung 1.012 Personen quantitativ befragt. Sie ist repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren nach Alter, Geschlecht und Bundesland.