Tichanowskaja: „Lukaschenko benutzt Migranten als Kanonenfutter“
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Die belarussische Bürgerrechtlerin und Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja spricht am Dienstag Abend vor dem Brandenburger Tor.
© Quelle: Paul Zinken/dpa
Berlin. Swetlana Tichanowskaja (39) ist studierte Pädagogin für Deutsch und Englisch und wollte eigentlich nie Politikerin werden. Im Sommer 2020 sprang die Mutter zweier Kinder für ihren verhafteten Mann als Präsidentschaftskandidatin in die Bresche und trat gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko an. Nach der gefälschten Wahl setzte in Belarus eine Verhaftungswelle ein, Tichanowskaja floh nach Litauen, von wo aus sie heute die Opposition anführt. Am Mittwoch besuchte die Bürgerrechtlerin auf Einladung der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung Berlin, wo das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sie zum Interview traf.
Frau Tichanowskaja, die Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen eskaliert, Tausende Migranten sind im Niemandsland gestrandet. Was sagen Sie dazu?
Lukaschenko orchestriert diese schreckliche Krise ganz bewusst. Er will sich damit an der EU rächen, weil sie die demokratische Bewegung in Belarus unterstützt. Lukaschenko will erreichen, dass die EU mit ihm verhandelt. Das ist ein klarer Erpressungsversuch, dem die EU nicht nachgeben darf. Zudem will Lukaschenko mit den Migranten davon ablenken, dass seine Schergen weiterhin die Opposition in Belarus brutal unterdrücken.
Wie lässt sich diese humanitäre Krise lösen?
Die Migrationskrise ist eine direkte Folge der politischen Krise in Belarus. Lukaschenko muss abtreten, sonst fällt ihm noch Schlimmeres ein, was er der EU antun kann. Wir müssen also die Migrationskrise und die politische Krise gemeinsam lösen. Da hilft es übrigens nicht weiter, dass manche Menschenrechtler in der EU Kritik an Polen wegen der Behandlung der Migranten üben.
Wie meinen Sie das?
Für mich ist das zynisch. Dieselben Organisationen schweigen, wenn es um die Menschenrechtsverletzungen des Lukaschenko-Regimes geht. Dabei ist klar: Lukaschenko benutzt die Migranten als Kanonenfutter. Die polnischen Behörden machen aus meiner Sicht, was sie können.
Sind die EU-Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime ausreichend?
Vergessen Sie nicht, dass auch die USA und Großbritannien Sanktionen verhängt haben. Aber es muss noch mehr wirtschaftlichen Druck von außen geben. Im fünften EU-Sanktionspaket, über das gerade in Brüssel debattiert wird, sollten zum Beispiel Strafen gegen Fluglinien enthalten sein, die Migranten nach Belarus bringen.
Welche Rolle spielt der russische Präsident Wladimir Putin?
Die Belarussinnen und Belarussen müssen mit dem großen und mächtigen Nachbarn Russland leben. Das lässt sich nicht ändern. Auch wenn wir uns sehr darüber ärgern, dass der Kreml Folter und Gewalt des Lukaschenko-Regimes gebilligt hat. Aber immerhin unterstützt die Führung in Moskau Lukaschenko nicht mehr ganz so lauthals wie noch vor Monaten.
Kann sich Lukaschenko uneingeschränkt auf Putin verlassen?
Da bin ich mir nicht so sicher. Momentan ist Russland in einer komfortablen Situation. Lukaschenko ist völlig abhängig von Moskau. Er muss für wenig Geld Unternehmen an Russland verkaufen. Andererseits weiß Moskau natürlich auch, dass Lukaschenko toxisch ist. Niemand im Westen spricht mit ihm. Belarus ist in den Augen des Kremls keine Pufferzone mehr zwischen dem Westen und Russland. Der Kreml muss also fürchten, langfristig auch einen politischen Preis für die Unterstützung Lukaschenkos zahlen zu müssen.
Bereitet Moskau etwa einen Kurswechsel vor?
So schnell geht das nicht. Der Kreml kann ja nicht einfach sagen: Bislang haben wir Lukaschenko unterstützt, aber jetzt lassen wir ihn fallen. Das ist ein Prozess. Sehen Sie, manchmal schickt Moskau durchaus unangenehme Nachrichten nach Minsk. In russischen Zeitungen werden zum Beispiel Umfragen gedruckt, wonach nur 30 Prozent der Befragten Lukaschenko gut finden, die Opposition aber 60 Prozent. Das ist ein Signal an Lukaschenko: Wir beobachten dich. Wir wissen, wie es wirklich aussieht in Belarus.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit Putin telefoniert und ihn gebeten, auf Lukaschenko wegen der Migranten einzuwirken. Was halten Sie davon?
Das ist ein diplomatischer Weg, den man natürlich beschreiten kann. Aber es kann nicht funktionieren, wenn beispielsweise Deutschland, Russland und das Regime in Belarus über die Zukunft reden ohne die Repräsentanten der demokratischen Kräfte. Das geht überhaupt nicht. Wir haben zu reden über neue Wahlen und davor müssen alle politischen Gefangenen, von denen es Tausende gibt, aus den Gefängnissen freigelassen werden. Das wäre ein Signal, dass man bereit wäre für Gespräche.
Sollte der Westen überhaupt mit Lukaschenko reden?
Nein, natürlich nicht, auf keinen Fall. Und Deutschland hat da eine sehr klare Position. Man sollte nicht mit Kriminellen sprechen. Diese Situation ist nicht nur eine Herausforderung für Belarus, es ist auch eine Herausforderung für die demokratische Welt. Denn die Opposition in Belarus kämpft auch für die Rechte und Werte dieser demokratischen Welt.
Sie sind seit über anderthalb Jahren die führende Persönlichkeit der belarussischen Opposition. Aber Sie müssen im Exil leben und haben daher nur wenig Einfluss auf das Geschehen in Belarus. Fühlen Sie sich manchmal hoffnungslos?
Wenn ich in Belarus wäre, wäre mein Einfluss viel geringer. Denn ich würde im Gefängnis sitzen. Mit modernen Möglichkeiten kann man auch von außen viel bewirken. Jetzt bin ich zwar nicht im Zentrum des Geschehens, aber ich kann jeden Tag mit Aktivisten der Oppositionsbewegung kommunizieren, über das Internet oder über Telefon. Und natürlich bin ich ständig im Dialog mit den Oppositionskräften in meiner Heimat. Wir arbeiten zusammen und sind besser vernetzt als je zuvor. Und obwohl man wegen einer Mitteilung auf einem Social-Media-Kanal inhaftiert werden kann, machen die Menschen weiter.
Haben Sie jemals daran gedacht, es wie Alexej Nawalny zu tun und in Ihr Heimatland zurückzukehren?
Ich bin bereit, nach Belarus zurückzukehren, wenn ich sehe, dass ein Wechsel beginnt und dass es sinnvoll ist.
Glauben Sie, dass es noch einen Weg gibt, Lukaschenko friedlich zu stürzen?
Ich wünsche mir, dass sich alles auf einem friedlichen Weg vollzieht und ich möchte wirklich keine weiteren Opfer mehr. Ich denke, wir haben im 21. Jahrhundert so viele moderne Möglichkeiten, uns zu verständigen, und dazu muss man das Regime bewegen. Wenn zum Beispiel die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einen Berichterstatter nach Belarus entsenden will, dann verweigert das Regime das einfach. Und wir finden uns damit ab. Ist das alles? Belarus ist OECD-Mitglied und hat demzufolge die Regeln der Organisation zu beachten.
Wenn Lukaschenko eines Tages weg wäre, würden Sie die Präsidentschaft antreten?
Wissen Sie, ich habe in letzter Zeit viel politische Erfahrung gesammelt und ich habe inzwischen Verbindung zu vielen wichtigen politischen Führungsfiguren Europas. Aber meine Aufgabe ist es, unser Land zu freien Wahlen zu führen, das habe ich den Menschen versprochen. Es ist nicht nötig, Präsidentin zu sein, um nützlich für dein Land zu sein. Wahrscheinlich wird meine Erfahrung auch künftig gebraucht in Belarus. Ich weiß nicht, was meine Rolle sein wird. Aber ich werde so lange für die Menschen in Belarus da sein, solange sie mich brauchen.