Belarus: 70 Prozent sind in Sorge wegen der Gewalt des Regimes

Ende März in Vilnius, der Hauptstadt Litauens: Demonstration protestieren mit einer riesigen rot-weiß-roten Fahne für die Freiheit der politischen Gefangenen in Belarus.

Ende März in Vilnius, der Hauptstadt Litauens: Demonstration protestieren mit einer riesigen rot-weiß-roten Fahne für die Freiheit der politischen Gefangenen in Belarus.

Berlin. Fast die Hälfte der Menschen in Belarus ist eindeutig der Meinung, dass die Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020 gefälscht worden sind. Machthaber Alexander Lukaschenko (67) erklärte sich damals mit über 80 Prozent Stimmenanteil zum Sieger und regiert seit nunmehr 26 Jahren autoritär das Land mit 9,5 Millionen Einwohnern.

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Die Frage, ob sie glauben, dass die Wahlen gefälscht worden sind, beantworteten 47 Prozent mit „Dem stimme ich voll und ganz zu“, weitere 17,5 Prozent antworteten mit „Dem stimme ich eher zu“. Das heißt, fast zwei Drittel sehen das Wahlergebnis als nicht korrekt an, der Rest ist sich unsicher, wie er die Frage beantworten soll, beziehungsweise 4,6 Prozent sagen klar, die Wahlen seien nicht gefälscht worden. Dabei handelt es sich vor allem um ältere Wähler, die dem Lager der Lukaschenko-Anhänger zuzurechnen sind.

2000 Menschen befragt

Das ist eine Haupterkenntnis aus der ersten großen Erhebung nach der Präsidentschaftswahl, die vom Berliner Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (Zois) im Dezember durchgeführt und jetzt veröffentlicht wurde. Wie Politikwissenschaftler Félix Krawatzek erläuterte, wurden dazu online 2000 Menschen im Alter von 16 bis 64 Jahren in Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern befragt.

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Nach den Wahlen im Sommer 2020 war es zu wochenlangen Großdemonstrationen gekommen, auf denen der Rücktritt Lukaschenkos und die Anerkennung seiner Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja als Wahlgewinnerin gefordert wurden. Die Polizei ging mit massiver Gewalt gegen die Demonstranten vor, es gab 35.000 vorübergehende Festnahmen, Folteropfer und Tote.

Aus dem Zois-Report „Belarus am Scheideweg“ geht weiter hervor, dass etwa 18 Prozent der Erwachsenen an den Protesten auf der Straße beteiligt waren. 48 Prozent gaben an, dass sie Menschen kennen, die an den Demonstrationen beteiligt waren. Krawatzek wertet das als starkes Indiz, wie weit verbreitet die Proteste in der Bevölkerung sind und wie stark die Politisierung der Gesellschaft vorangeschritten ist.

20 Prozent gegen die Proteste

Allerdings zeigt der Zois-Report auch, dass die Oppositionsbewegung es nicht geschafft hat, die gesamte Bevölkerung hinter sich zu vereinen. Zwar sagen 30 Prozent, sie seien einverstanden mit den Protesten, aber 19 Prozent sagen, sie wüssten nicht so genau, was sie davon halten sollen. Und 20 Prozent sind sogar komplett dagegen. Bei der unsicheren Beurteilung ist wahrscheinlich davon auszugehen, dass die massiven Repressionen des Machtapparates gegen Protestierende eine Rolle spielen.

Von den ins Ausland geflüchteten Führungskräften der Opposition wird immer wieder betont, wie wichtig die sozialen Netzwerke im Internet als Informationsquelle und Sprachrohr sind. Dementsprechend gaben bei der Umfrage 70 Prozent an, dass Telegram, Facebook, Twitter und Co. ihre ersten Informationsquellen sind. Nur 10 Prozent sagten, dass sei für sie Belarus-TV, der staatlich gelenkte Fernsehsender. Dies wiederum gaben mehrheitlich ältere Befragte an.

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Angesichts der brutalen Gewalt der Sicherheitskräfte sagten 70 Prozent dass ihnen das Sorge bereitet. Davon waren 48 Prozent „sehr besorgt“ und 22 Prozent immer noch „ziemlich besorgt“, der Rest weniger bis gar nicht.

Große Erwartungen

Befragt nach möglichen Wegen aus der Staatskrise, plädierten über 40 Prozent für Neuwahlen, wie sie auch die Exiloppositionsführung unter Swetlana Tichanowskaja und Pawel Latuschka fordert. Damit verbinden die Menschen drei große Erwartungen: die Wahrung der Unabhängigkeit des Landes, mehr Mitbestimmung auf politischer Ebene und eine Verbesserung des allgemeinen Lebenstandards. Über 80 Prozent machen sich Sorgen um ihre persönliche finanzielle Situation. 41 Prozent finden die Demokratie als Regierungsform gut, 13 Prozent sind für ein autokratisches System. Bei Letzteren handelt es sich vor allem um männliche Lukaschenko-Anhänger.

Vertrauen in Kirche erschüttert

Die Protestwelle im Land hat vielleicht nicht den Glauben, wohl aber die Institution Kirche erschüttert. Etwa 72 Prozent der Belarussen sind christlich-orthodox, fast 16 Prozent römisch-katholisch und 1,2 Prozent protestantisch. Nach Interpretation der Zois-Theologin Regina Elsner hat die Kirche im Zuge der Proteste einen enormen Vertrauensverlust erlitten. „Das Vertrauen ist massiv eingebrochen, was sicher auch mit der autoritätsstabilisierenden Haltung einiger Kirchenoberhäupter zu tun hat“, sagte Elsner. Bei der Befragung gaben über 60 Prozent an, dass die Meinung religiöser Führer im Zusammenhang mit der Krise des Landes für sie nicht entscheidend ist. Genau 36 Prozent antworteten mit „nicht wichtig“ und 24 Prozent mit „eher nicht wichtig“. Nur 6 Prozent gaben an, es sei für sie wichtig, was die Kirchenoberhäupter meinen, 13,5 Prozent sagten, sie wüssten es nicht.

Dankbarkeit für Befragung

Eine für die Macher des Reports um Zois-Direktorin Prof. Gwendolyn Sasse ganz neue und auch ein wenig verblüffende Erfahrung: Die meisten Probanden haben sich nach Abschluss der Umfrage dafür bedankt, dass sie teilnehmen, dass sie zu Wort kommen konnten. „Die Befragung und die dabei gewonnenen Daten zeigen eine umfassende Politisierung der Gesellschaft und ein geringes Vertrauen in die noch bestehenden Institutionen“, sagte Sasse dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Der zu beobachtende Druck werde das System verändern, auch wenn es womöglich länger dauern werde, als das angesichts der Massendemonstrationen im vergangenen Jahr anzunehmen war.

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