Bei der Generaldebatte krachte es im Hohen Haus
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„Es gibt keine Entschuldigung und Begründung für Hetze“: Die Kanzlerin fordert in der Generaldebatte des Bundestags Respekt für das Recht und die Menschenwürde ein – und zitiert sogar das Grundgesetz.
© Quelle: Foto: Michele Tantussi/GETTY
Berlin. Die Generaldebatte ist der Höhepunkt der Haushaltsberatungen im Bundestag. Es ist eine Generalabrechnung der Opposition mit der Regierung.
Die Abfolge der Redner folgt einer besonderen Regel: Erst spricht der Fraktionschef der größten Oppositionspartei. Dann ist die Kanzlerin an der Reihe. Am Mittwochmorgen aber prescht einer dazwischen, und schon da steht fest: Diese 48. Sitzung des 19. Deutschen Bundestags wird als etwas ganz anderes in Erinnerung bleiben – als Generalabrechnung mit der Opposition.
Es meldet sich Martin Schulz, SPD, vor einem Jahr noch Kanzlerkandidat, heute einfacher Abgeordneter. Schulz nutzt sein Recht für eine Zwischenbemerkung, um eine Entgegnung auf die Eröffnungsrede des AfD-Chefs Alexander Gauland vorzutragen. Es ist eine Erwiderung, in der sich Sorge, Wut und Rauflust – kurzum: die aktuelle Gefühlslage vieler Menschen in diesem Land – mit Wucht entladen.
Martin Schulz ist wieder da
Gauland hatte über weite Strecken seiner Rede Gewalttaten von Einwanderern aufgelistet; die rechtsextremen Ausschreitungen von Chemnitz nannte er „unappetitlich“, das Werk vereinzelter „Hohlköpfe“. Schulz wirft Gauland nun vor, er bediene sich rhetorischer Mittel des Faschismus, indem er komplexe politische Sachverhalte auf ein einziges Thema reduziere.
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„Es ist Zeit, dass sich die Demokratie gegen diese Leute wehrt“: Martin Schulz (SPD).
© Quelle: imago stock&people
„Die Migranten sind an allem schuld – eine ähnliche Diktion hat es in diesem Hause schon einmal gegeben“, ruft Schulz. Er hält Gaulands Partei „rhetorische Aufrüstung“ vor, die zu Enthemmung und Gewalt auf den Straßen führe. „Es ist Zeit, dass sich die Demokratie gegen diese Leute wehrt“, donnert Schulz – und greift dann noch Gaulands „Vogelschiss“-Provokation auf: „Herr Gauland, die Menge von Vogelschiss ist ein Misthaufen, und auf den gehören Sie in der deutschen Geschichte.“ Wäre da nicht diese tragische Vorgeschichte, müsste man meinen, da empfehle sich einer für Höheres. Ovationen von SPD, Linken und Grünen. Lautstarke Empörung aus den Reihen der AfD, noch aber bleiben die Rechten auf ihren Sitzen.
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„Frau Merkel, Sie haben gesagt, es habe in Chemnitz Hass gegeben. Aber Hass ist keine Straftat“: Alexander Gauland, AfD-Fraktionschef, neben der C-Vorsitzenden Alice Weidel.
© Quelle: GETTY IMAGES EUROPE
Vom Regierungspult aus durchmisst derweil die Kanzlerin die Reihen mit sehr neutralem Blick.
Angela Merkel wirkt nicht betrübt darüber, dass Schulz ihr dieses eine Mal die Schau gestohlen hat. Vielleicht ist sie ihm sogar ein bisschen dankbar dafür, dass er in seiner emotional überschäumenden Art den Rechten Paroli geboten hat. Sie tut dies im Verlauf der folgenden halben Stunde auf ihre Art, mit Zahlen, Argumenten – und dem Zitieren von Artikel eins des Grundgesetzes.
Merkel zitiert das Grundgesetz
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, sagt Merkel. Die Bundeskanzlerin hält es im Spätsommer 2018 tatsächlich für geboten, den Bundestag an das fundamentale Prinzip des Zusammenlebens in diesem Land zu erinnern.
Deutschland ist verunsichert, mithin auch schwer gereizt. Gewaltverbrechen, begangen von Menschen, die hier um Asyl ersuchen, erschüttern nicht zuletzt auch jene Bürger, die ihre freie Zeit der Unterstützung Zugewanderter widmen. Rechte sehen sich durch jede gemeldete Attacke in ihrer Ideologie der Ausgrenzung bestätigt und machen in bemerkenswert massenwirksamer Weise mobil. Chemnitz und Köthen sind zur Chiffre geworden für das erstarkende Selbstbewusstsein und die zunehmende Enthemmung von Rechtsradikalen, nicht nur im Osten Deutschlands. Zudem hält bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein ein rauer, aggressiver Ton Einzug, der den Meinungsaustausch erschwert. Konsens zu finden wird schwerer.
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„Sie marschieren Seit’ an Seit’ mit Neonazis und verhöhnen unser Land und unsere Werte. Ihre Maske ist gefallen“: SPD-Chefin Andrea Nahles an die AfD-Abgeordneten.
© Quelle: dpa
Und mitten hinein in diese Stimmung allgemeiner Verunsicherung platzt auch noch eine Institutionenkrise. Der Chef des Inlandsgeheimdienstes, qua Amt Hüter der Verfassung, relativierte nicht nur die verfassungsfeindlichen Umtriebe von Rechts. Hans-Georg Maaßen schürte mit spekulativen Aussagen zudem Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner Behörde und auch der Bundeskanzlerin. Vor einer Woche hatte Maaßen in der „Bild“-Zeitung angezweifelt, dass es in Chemnitz rechtsextremistische Hetzjagden gegeben habe. Ein Begriff, den zuvor Merkel in Zusammenhang mit den Übergriffen in Chemnitz gebraucht hatte. Was folgte, war eine Debatte über dessen Bedeutung, die zeitweise sowohl den Tod eines Mannes in Chemnitz als auch die rechtsradikalen Kundgebungen überlagerte. Der Kanzlerin ging das offenbar gegen den Strich.
Sie könne zwar jeden verstehen, der sich darüber aufrege, dass hinter Tötungsdelikten zuvor auffällige oder längst ausreisepflichtige Straftäter steckten, sagt Merkel. Dies sei jedoch „keine Entschuldigung für menschenverachtende Demonstrationen“. Und dann sagt Merkel: „Begriffliche Auseinandersetzungen, ob es nun Hetze oder Hetzjagd ist, helfen uns wirklich nicht weiter.“ Sie nennt seinen Namen nicht, aber jedem im Saal dürfte in dieser Sekunde Maaßen durch den Kopf schießen.
Später nimmt Merkel mit eng am Tisch verschränkten Armen und regungsloser Miene einen vorgeblich sorgenvollen Rat des Linken-Fraktionschefs Dietmar Bartsch entgegen. „Maaßen bläst zur Attacke auf die Bundeskanzlerin“, ruft Bartsch. „Frau Merkel, das dürfen Sie sich nicht bieten lassen!“
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„Man weiß nicht so recht, ob der Verfassungsschutzchef rechts außen beobachtet oder coacht“: Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt.
© Quelle: dpa
Doch Merkel verweigert sich der von vielen gehegten Erwartung, sich zur Causa Maaßen zu äußern. Die Kanzlerin sorgt sich um den Zusammenhalt im Land – diese Sorge steht im Mittelpunkt ihrer Rede.
Wenn es in der Vergangenheit innenpolitisch brenzlig um sie wurde, etwa im Streit mit der CSU oder auch nach den Wahlverlusten vor einem Jahr, richtete Merkel den Fokus bei öffentlichen Auftritten gern auf fernere, vermeintlich größere Themen: auf Europa, auf Afrika, auf künstliche Intelligenz. Dann galt es, den Eindruck routinierter Geschäftsmäßigkeit zu vermitteln, business as usual.
Zwar betont Merkel auch am Mittwoch Deutschlands Verantwortung für die EU und spricht von Europas ihr zufolge „wichtigsten“ Herausforderung, dem Umgang mit Migration. Auch da mahnt sie mehr Interesse für die Entwicklungen in Afrika und dem Nahen Osten an, allem voran in Syrien. SPD-Chefin Andrea Nahles hatte eine Beteiligung Deutschlands an einem Vergeltungsschlag im Falle eines weiteren Giftgaseinsatzes des syrischen Regimes kategorisch ausgeschlossen. Dazu meint Merkel: „Von vornherein einfach Nein zu sagen, egal was auf der Welt passiert, das kann nicht die deutsche Haltung sein.“
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„Diese Bundesregierung verunsichert die Menschen im Land“: Dietmar Bartsch, Linken-Fraktionschef.
© Quelle: imago stock&people
Hauptsächlich aber bleibt Merkel diesmal in Deutschland. Sie mahnt, appelliert und redet gegen die Spaltung an: „Ich lasse nicht zu, dass klammheimlich ganze Gruppen in unserer Gesellschaft ausgegrenzt werden.“
Doch die Kanzlerin ahnt wohl, dass Appelle allein der Bevölkerung kein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit vermitteln. Also zählt sie auf, was ihre Koalition bisher schon zur Stärkung von Polizei und Sicherheitsdiensten beschlossen hat, was sie bei der Pflege, der Rente und der Kita-Betreuung angeschoben hat. So erinnert Merkel nebenbei daran, dass diese Regierung durchaus arbeitet.
Soziale Wohltaten gegen Vertrauen?
„Wir müssen ab und zu auch über das sprechen, was uns gelingt“, sagt die Kanzlerin in Richtung der Abgeordneten von CDU und CSU. Vielleicht hätte sie sich da besser an Horst Seehofer gewandt, ihren CSU-Innenminister auf der Regierungsbank. Dem Bayern fällt es ja ein wenig schwer, positiv über diese Regierung zu sprechen; Probleme und deren Mütter standen zuletzt im Mittelpunkt seines Interesses.
Soziale Wohltaten also gegen Vertrauen? Auch SPD-Chefin Nahles scheint an diese Devise zu glauben und listet auf, wo die Große Koalition die Bürger schon überall entlastet habe. Der zu verabschiedende Etat sein ein „waschechter Investitionshaushalt“, sagt Nahles. Auf der Regierungsbank hören die Kanzlerin und ihr Finanzminister Olaf Scholz kopfnickend zu. Sie rücken dabei Seit’ an Seit’ auf ihren blauen Sesseln vor und zurück. Von der Besuchertribüne aus wirken die beiden wie ein schipperndes Paar auf unruhiger See.
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„Die Menschen lassen sich nicht mit Sozialleistungen kaufen, Herr Scholz!“: FDP-Chef Christian Lindner.
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„Die Regierung führt nicht, sie taumelt den Ereignissen hinterher“, ruft ihnen FDP-Chef Christian Lindner zu. Der Liberale hat zur Abrechnung mit der Regierung angesetzt – am Ende aber bleibt von Lindners Rede vor allem der Wortwechsel zwischen ihm und dem Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter in Erinnerung. Lindner fragt gerade, warum sich „die „staatstragenden Kräfte der Mitte“ nicht gegen die Gegner der Verfassung verbinden, als ihm Hofreiter ins Wort fällt: „Weil Sie zum Beispiel nicht wollten!“Bis heute muss sich der FDP-Chef Hasenfüßigkeit vorwerfen lassen, weil er die Jamaika-Verhandlungen platzen ließ. Hofreiters Einwurf war wohl einer zu viel, Lindner läuft rot an, er wird persönlich: „Sie kommen hier mit Ihrer Traumaverarbeitung von Jamaika, weil Sie nicht Minister geworden sind!“
Am Ende: Ein Eklat
Von einer im Lindnerschen Sinne einmütigen Strategie der Bundestagsfraktionen gegen rechts kann keine Rede sein. Ein jeder arbeitet sich auf seine Weise an der AfD ab. Zum Eklat kommt es, als der SPD-Politiker Johannes Kahrs ihnen zuruft: „Hass macht hässlich, schauen Sie in den Spiegel.“ Kahrs setzt nach: „Schauen Sie in den Spiegel, dann sehen Sie, was diese Republik in den 20ern und 30ern ins Elend geführt hat.“ Die AfD-Abgeordneten verlassen den Plenarsaal.
„Ich bin ganz sicher, dass die Bürgerinnen und Bürger sehr genau beobachten, wie wir den politischen Dialog führen“, hatte Merkel zu Beginn ihrer Rede gesagt. Am Ende dieses denkwürdigen Plenartages gilt festzuhalten: Was Schärfe und Unversöhnlichkeit der Debatte angeht, ist dieser Bundestag wohl ein Abbild der Gesellschaft.
Von Marina Kormbaki/RND