Attentäter von Halle: “Stephan B. handelte absolut prototypisch”
Beate Küpper ist Professorin für Soziale Arbeit in Gruppen und Konfliktsituationen an der Hochschule Niederrhein. Im Interview erklärt die Sozialpsychologin mögliche Motive des Mannes, der im Oktober 2019 die Synagoge in Halle attackierte und letztlich zwei Menschen erschoss.
© Quelle: Hochschule Niederrhein
Halle/Saale. Als intelligent, wortgewandt, aber sozial isoliert beschreibt Rechtsanwalt Hans-Dieter Weber seinen Mandanten Stephan B. Am Dienstag beginnt am Landgericht Magdeburg der Prozess gegen den 28-Jährigen, der angeklagt ist wegen zweifachen Mordes, mehrfachen Mordversuchs zum Nachteil von 68 Menschen sowie Volksverhetzung.
Was der bis dahin unauffällige junge Mann im vergangenen Herbst am höchsten jüdischen Feiertag getan hat, schockierte die Republik. In Uniform und schwer bewaffnet versuchte er, die Synagoge von Halle zu stürmen, erschoss anschließend zwei Menschen und streamte alles live auf einer Internetplattform.
Warum tut jemand so etwas? Was trieb Stephan B. an? Sozialpsychologin Beate Küppers sieht in ihm einen neuen Typ von Attentäter, dem Teile der Gesellschaft einen immer besseren Nährboden bieten.
Frau Küpper, am 9. Oktober 2019 wollte ein damals 27 Jahre alter Deutscher in einer Synagoge ein Massaker anrichten. Zwei Menschen starben. Was ist neu an dieser Art von Anschlag?
Der mutmaßliche Täter in Halle lässt sich einem neuen Tätertypus zuordnen, der aber eigentlich nicht ganz neu ist. Behörden und Kriminalforscher beschäftigen sich seit den dschihadistischen Taten in Europa, den rechtsextremen Terroranschlägen und spätestens seit dem Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch, bei dem 51 Menschen getötet wurden, mit dieser Art von Täter. Es handelte sich auch in dem Fall in Neuseeland um einen Einzeltäter, allerdings um einen Einzeltäter, der sich selbst hochstilisiert hat zum Helden.
Attentäter von Halle vor Gericht
Neun Monate nach dem antisemitischen Anschlag von Halle hat der Prozess gegen Stephan B. begonnen.
© Quelle: Reuters
Tun das Amokläufer nicht auch?
Bei klassischen Amokläufern gibt es zwar persönliche Motive wie Frustration, Wut oder Narzissmus, die dann in eine gezielte Tat münden – manchmal an einem Ort, den sie gut kennen und an dem sie ihrer Meinung nach gedemütigt wurden –, bei dem Attentäter von Christchurch oder eben auch im Fall von Halle kommt aber hinzu, dass sich diese Männer als Krieger einer ganzen Bewegung sehen, als Kämpfer für eine höhere Sache.
Schwierig aus Sicht der Behörden und der Forschung ist dabei, dass es keine Bewegungen im klassischen Sinne sind, sondern lose, virtuelle Netzwerke von Gleichgesinnten, ohne dass sich die Menschen je begegnet sein müssen – und auch ohne dass eine Tat gemeinsam geplant wird.
Prozess gegen Synagogen-Angreifer Stephan B. beginnt
Dem laut Nebenklage Geständigen werden zweifacher Mord sowie mehrfache Mordversuche, Volksverhetzung und Körperverletzung vorgeworfen.
© Quelle: Reuters
Was sind das für Netzwerke, was wollen diese Menschen?
Die Internetforen oder Gamingcommunitys, in denen sich wohl auch Stephan B. bewegte, haben einen gemeinsamen ideologischen Nenner: Sie teilen eine rechtsradikale, islam- und/oder judenfeindliche Weltanschauung und betrachten die rechte Szene als grundsätzlich zu lasch im Handeln. Die Vorstellung vom “großen Austausch”, von “Umvolkung”, “Volkstod” oder “Genozid an den Weißen” ist Kern dieser Ideologie.
Die Anhänger sind der Überzeugung, dass es einer neuen Weltordnung bedarf und dass zunächst für Chaos gesorgt werden müsse, um die neue Ordnung herzustellen. Zu dieser Logik gehört auch, radikal zu wählen oder etwa muslimische Bürger zu erschießen, um Bürgerkriege zu provozieren.
Diese Form der Selbstradikalisierung im Internet ist relativ neu und wird als Phänomen der “Acceleration” (”Beschleunigung”) bezeichnet. Das Ziel der Betroffenen ist: maximale Zerstörung und ‘reinen Tisch zu machen’ – Tabula rasa. Der Attentäter von Christchurch hatte in einem Abschnitt seines “Manifests” mit dem Titel “Destabilisierung und Beschleunigung: Taktik” die Acceleration ausdrücklich begrüßt.
Welche Rolle spielt die Persönlichkeitsstruktur der Täter?
Es gibt bestimmt viele persönliche Parallelen zwischen dem Christchurch-Attentäter und dem 27-Jährigen in Halle: Bei beiden verlief das Leben nicht zufriedenstellend, erfüllte nicht ihre Ansprüche und übliche Erwartungen, beide waren frustriert. Oft sind diese Täter auch gar nicht mehr ganz so jung, sondern mit um die 30 Jahre eher an einem Punkt, wo alle anderen um sie herum schon etwas erreicht haben. Die Ideologien und Verschwörungen, denen sie sich im Internet anschließen, geben dem Selbsthass dann eine Richtung.
Sie stellen ihr Handeln in einen höheren Zusammenhang – nach dem Motto “Dass ich nicht das bekomme, was mir zusteht, liegt an der Weltordnung, die geändert werden muss”. Sie sehen sich an der Spitze einer Bewegung, deren ideologische Versatzstücke im Internet weit verbreitet und bisweilen auch auf Demonstrationen zu finden sind. Die Täter wollen ihre Taten aufwerten – und damit auch sich selbst.
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Zäune sichern den Bereich vor dem Landgericht in Magdeburg. Hier beginnt der Prozess gegen den Attentäter von Halle.
© Quelle: Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/
Christchurch, Halle, Hanau – immer sind es Männer, die diese Taten begehen. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Die Forschung zeigt: Frauen neigen weniger zu physischer und psychischer Gewalt im öffentlichen Raum. Bei diesen Anschlägen kommt hinzu, dass das ganze Bild des Kriegers – auch in der Gamingwelt – ein klassisch männliches Rollenbild ist. Es sind virtuelle Heldenfiguren, denen sie nacheifern wollen, oft auch optisch: Stephan B. trug in Halle etwa ein Outfit wie das eines Soldaten, eines Elitekämpfers.
Und er streamte mit seiner Helmkamera alles live ins Internet. Welchen Anteil haben “die anderen” an solchen Taten?
Einerseits handeln Attentäter losgekoppelt von der Gesellschaft und immer häufiger auch ohne dass sie sich mit anderen absprechen oder “Aufträge” erfüllen. Andererseits handeln sie in einer ideologisch fest verankerten Umgebung: Dass Islamfeindlichkeit und Antisemitismus in der breiten Bevölkerung einen größer werdenden Teil einnehmen, stellen wir in unseren Umfragen fest. Das gibt den Männern Nährboden. Es herrscht mitunter eine Stimmung in der Gesellschaft, die dazu beiträgt, dass sich ein Täter nicht als Geächteter fühlen muss – sondern sich als mutiger Held sehen kann.
Rechtsradikalismus, Islamfeindlichkeit und Antisemitismus – was trieb den Attentäter in Halle?
Antisemitismus ist Kernbestand des Rechtsradikalismus, und die Islamfeindlichkeit ist seit etwa zwei Jahrzehnten immer stärker spürbar geworden. Trennen lassen sich die drei Aspekte aber kaum mehr, das zeigt die Tat von Halle beispielhaft: Stephan B. will eigentlich möglichst viele Juden töten, scheitert an der Tür und fährt dann – ob nun geplant oder nicht – zu einem Dönerimbiss, um mutmaßlich Muslime zu töten.
Weil ihm auch das “misslingt”, erschießt er einen Kunden im Imbiss, der zufällig dort ist, genau wie die Passantin, die er zuvor an der Synagoge erschossen hat. Beide Opfer waren weder jüdische noch muslimische Deutsche und wurden insofern wahllos getötet. Damit handelte Stephan B. absolut prototypisch für den neuen Tätertypus.
Beate Küpper ist Professorin für Soziale Arbeit in Gruppen und Konfliktsituationen an der Hochschule Niederrhein. Die Sozialpsychologin hat unter anderem am Langzeitprojekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland mitgearbeitet und das gleichnamige Projekt in Europa koordiniert und berät auch Praxisprojekte in diesem Themenfeld.
Von 2015 bis 2016 war sie Mitglied im unabhängigen Expertenrat Antisemitismus des Deutschen Bundestags.