Europa und die Atomkraft: In welchen Ländern der Ausbau weiter vorangetrieben wird
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Zwei der drei letzten deutschen Atomkraftwerke sollen laut Bundeswirtschaftsminister Habeck (Grüne) nach dem Jahreswechsel noch bis Mitte April 2023 als Reserve zur Verfügung stehen.
© Quelle: Armin Weigel/dpa
Lange hieß es in Deutschland: Atomkraft? Nein danke! Der Angriffskrieg Russlands und die daraus resultierende Energiekrise haben jedoch für einen Stimmungsumschwung gesorgt. Das Ausrufezeichen ist zum Fragezeichen mutiert – Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat am Montag verkündet, zwei der drei noch laufenden Atomkraftwerke als Notreserve zu halten und bis Frühjahr für die Stromversorgung bereitzustellen. In Deutschlands Nachbarländern sorgt die Diskussion für Unverständnis, immerhin wird in 13 der 27 EU-Staaten weiter Atomenergie zur Stromproduktion genutzt.
Atomkraft in Polen, Tschechien und Litauen
Polen nutzt keine Atomenergie, hat es auch nie getan. Aber das soll sich ändern: Der erste polnische Reaktor soll bis 2033 entstehen. Fünf weitere sollen bis 2040 folgen – das soll den Ausstieg aus der Kohle ermöglichen.
Auch Tschechien will die Energiewende mit Atomkraft schaffen. Aktuell gibt es sechs Meiler, die Regierung will die Atomkraft mit Milliardeninvestitionen weiter ausbauen und dafür den Kohleausstieg auf 2033 vorziehen. Botschafter Tomáš Kafka will dennoch keine Ratschläge erteilen: „Tschechien respektiert, dass jedes Land seinen eigenen Energie-Mix bestimmt“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
In Anbetracht der dramatischen Lage, in der Russlands Präsident Wladimir Putin Energie als Waffe in seiner hybriden Kriegsführung gegen den Westen benutze, sei Tschechien zuversichtlich, dass alle Länder den Ernst dieser Situation erkennen und bereit sein werden, „whatever it takes“ zu tun, um Putins Strategie zu besiegen. „Tschechien wird bereit sein“, versicherte Kafka.
In Litauen wurde bis 2009 ein alter sowjetischer Reaktor genutzt, der musste auf Drängen der EU wegen Sicherheitsbedenken abgeschaltet werden. Der Bau eines neuen Atomkraftwerkes wurde 2016 nach einem negativen Referendum gestoppt. Trotzdem will die litauische Regierung weiterhin neue Atomkraftwerke bauen, um sich von russischen Energielieferungen unabhängig zu machen.
Lettland verfügt über keine eigenen Kernkraftwerke. Lettlands Botschafterin Alda Vanaga sagte dem RND, man begrüße ausdrücklich die Maßnahmen Deutschlands, um die Energieabhängigkeit von russischen Quellen zu verringern. „In Lettland wird aktuell über das Zukunftspotenzial der Atomenergie offen diskutiert. Nach jetzigem Stand können wir uns durchaus ein gemeinsames Projekt in diesem Bereich mit unseren nordischen Nachbarländern vorstellen“, so Vanaga.
RND erklärt: Atomkraft und Gas – wie nachhaltig sind sie wirklich?
Geht es nach der EU-Kommission, sollen sie „nachhaltig“ sein: Kernenergie und Erdgas. RND erklärt: Wie kommt diese Einstufung zustande? Und wie geht es weiter?
© Quelle: RND
Atomenergie in den Niederlanden und Schweden
Auch in den Niederlanden setzt man auf eine Renaissance der Atomenergie. Der 2021 beschlossene Ausstieg wurde wieder aufgegeben, stattdessen plädiert die Regierung für den Bau von zwei neuen Meilern – aktuell läuft nur einer.
Schweden hatte seinen Atomausstieg eigentlich schon in den 1980ern beschlossen, der Beschluss wurde 2010 aber wieder aufgehoben. Vor der Reichstagswahl Mitte September werben liberale Politiker wegen der hohen Energiepreise nun für einen Ausbau der Atomkraft.
Atomkraft in Südosteuropa
In vielen weiteren EU-Staaten wird der Ausbau von Atomenergie weiter vorangetrieben, um Klimaziele zu erreichen oder unabhängiger zu werden: In Bulgarien will die Regierung weiter ausbauen, hat im Frühjahr aber den Bau eines Reaktors durch russische Firmen abgesagt. In Rumänien laufen derzeit zwei Atomreaktoren, das Land plant dazu den Bau eines sogenannten modularen Atomreaktors. Das ist ein Mini-AKW. In der Slowakei decken Atommeiler mehr als 50 Prozent des Strombedarfs pro Jahr. Neue Reaktorblöcke sind in Planung. Das Land will damit seine Abhängigkeit von der Kohle verringern.
Auch in Slowenien, wo zusammen mit Kroatien ein Atommeiler betrieben wird, wird über den Bau eines weiteren Meilers nachgedacht. In Ungarn werden zwei neue Meiler errichtet – unter Beteiligung des russischen Staatsunternehmens Rosatom.
Atomenergie in Frankreich und Belgien: marode Reaktoren und massive Kosten
Etwa 67 Prozent seines Stroms bezieht Frankreich aus Atomenergie, dafür sorgen normalerweise 56 Reaktoren. Davon sind derzeit aber mehr als die Hälfte abgeschaltet. Der Grund: Sie sind marode, uralt und nicht mehr sicher. Das stellt Frankreich vor größere Probleme als die aktuelle Gaskrise.
Und Frankreich ist nicht der einzige Nachbar Deutschlands mit diesem Problem: Belgien hat als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg im Frühjahr den für 2025 geplanten Atomausstieg auf 2035 verschoben. Zwei Reaktoren dürfen weiterlaufen. Aber auch Belgiens Reaktoren sind alt und marode, bergen Sicherheitsrisiken, und es kommt immer wieder zu Pannen. Das ruft auch die NRW-Regierung auf den Plan, denn das belgische Atomkraftwerk Tihange liegt keine 100 Kilometer von Aachen entfernt – bereits 2017 wurden hier vorsorglich Jodtabletten an die Bevölkerung ausgegeben.
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Das Entlastungspaket und die Tücke im Detail: Der wichtigste Punkt ist noch offen
Wie dämmt die Regierung die Energiepreise ein? Sie weiß es noch nicht. Der Grund dafür ist komplex, die Umsetzung der 65-Milliarden-Euro-Pläne eine Herausforderung. Derweil sorgt ein Tweet von Justizminister Buschmann für Aufsehen.
In Finnland sind sogar die Grünen von der Kernenergie überzeugt – als Übergangslösung
In Finnland sind sogar die Grünen von der Atomenergie als Übergangstechnologie überzeugt. Finnland baut außerdem das weltweit erste atomare Endlager, in dem Atommüll aus dem eigenen Land für fünf Jahrtausende gelagert werden soll.
Aber auch hier gibt es Probleme: Der 2005 begonnene Bau des Kraftwerksblocks Olkiluoto 3 wurde erst zwölf Jahre später als geplant fertig – und kostete um ein Vielfaches mehr als vorher kalkuliert. Das gleiche Problem zeigt sich auch in Frankreich und Großbritannien. Kosten und Baupläne laufen aus dem Ruder – Investoren sind nicht leicht zu finden. Der scheidende britische Premierminister Boris Johnson kündigte deshalb kürzlich 700 Millionen Pfund zur Unterstützung für ein neues Atomkraftwerk an.
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Ganz so unabhängig, wie es scheint, macht Atomenergie nicht. In Finnland wurde der Bau eines weiteren Atomkraftwerks unter Beteiligung von Rosatom dieses Jahr gestoppt. Ein erheblicher Teil des Uraniums für die finnischen Atommeiler kommt aus Russland. Insgesamt liefert Russland rund ein Fünftel des Urans für Kernkraftwerke in Europa (Stand 2020).
Atomenergie in Spanien
Spanien will nach aktuellem Stand weiter am geplanten Ausstieg festhalten. Die Reaktoren, in denen zuletzt ungefähr 20 Prozent des spanischen Stroms erzeugt wurden, sollen zwischen 2027 und 2035 vom Netz gehen.
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