Kommentar zu Annalena Baerbock

Deutsche Außenpolitik mit neuem Gefühl

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und ihr ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba am 10. Mai in Kiew.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und ihr ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba am 10. Mai in Kiew.

Das beste Foto von Annalena Baerbock in Kiew ist eins, auf dem sie gar nicht zu erkennen ist. Es zeigt, wie die deutsche Außenministerin ihren ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba so eng umarmt, dass ihr Gesicht sekundenlang komplett verschwindet.

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Bilder dieser Art werden oft wegsortiert, man sieht ja nicht, wer drauf ist. Doch diese Szene war eine fürs Geschichtsbuch. Eine Vertreterin der deutschen Bundesregierung zeigte in der Ukraine Nähe, Herzlichkeit und Menschlichkeit – endlich.

Eine emotionale Nachrüstung

Es war höchste Zeit. Die emotionale Nachrüstung der deutschen Außenpolitik ist nicht irgendeine kleine Stilkorrektur. Sie ist das Gebot der Stunde, ein erster überfälliger Schritt in Richtung Zeitenwende.

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Baerbock weiß: Sie muss jetzt vieles reparieren, nicht nur im Verhältnis zur Ukraine.

In einem Luxushotel an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste empfängt sie heute die Außenministerinnen und Außenminister der G7‑Staaten zu einer dreitägigen Klausur. Gesucht wird eine gemeinsame Strategie, vor allem gegenüber Russland, aber auch mit Blick auf China. In beiden Fällen gilt: Nur wenn USA, Kanada, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan eng zusammenrücken, werden sie weltpolitisch etwas bewegen können zugunsten von Freiheit und Demokratie.

Mit dem Zusammenrücken allerdings tat sich in den letzten Jahren ausgerechnet der jetzige G7‑Gastgeber Deutschland immer wieder schwer.

Viele Deutsche ahnen gar nicht, wie eiskalt Berlin immer wieder auf andere Völker wirkte. Der Gipfel deutscher Egozentrik war der naive Glaube an eine für Deutschland lukrative Sonderbeziehung zu Russland. Besonders im Kanzleramt pflegte man immer wieder diese Illusion, unabhängig von der gerade vorherrschenden Couleur. Dass Nord Stream 2 „ein rein wirtschaftliches Projekt“ sei, verkündeten mit gespieltem Achselzucken Angela Merkel und Olaf Scholz lange Zeit unisono.

Baerbock: Deutschland wird „für immer“ auf russische Energie verzichten

Außenministerin Anna-Lena Baerbock ist nach Kiew gereist und mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zusammengekommen.

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Deutschlands Freunde befremdete das, in Europa ebenso wie jenseits des Atlantiks. Sie fanden dieses Verhalten falsch: politisch, ökonomisch – und leider auch in charakterlicher Hinsicht.

Wandel durch Handel?

Es ist jetzt Zeit, Deutschlands Irrtümer klar zu benennen. Die Grünen tun sich da leichter als SPD und Union, sie hatten immer schon Vorbehalte gegen den absoluten Vorrang des Kommerziellen.

Oft wurden die Grünen deshalb belächelt. Sie hätten nun mal keine Ahnung von Wirtschaft – das war jahrzehntelang ein breiter bundesdeutscher Konsens, bei Union und SPD ebenso wie bei Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften.

Inzwischen aber zeigt sich: Den immer wieder beschworenen „Wandel durch Handel“ gibt es zwar tatsächlich, nur wirkt er sich leider zulasten der Demokratien aus. Freie Gesellschaften werden durch Geschäfte mit Diktaturen schwächer, korrupter und angreifbarer. Zugleich neigen ökonomisch gestärkte autoritäre Herrscher zu einer Politik, die am Ende zu Krisen und Kriegen führt – was der Wirtschaft nicht nutzt, sondern schadet.

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Ein Treffen mit Lukaschenko, das Schlagzeilen machte: Titelseite der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ am 23. April 1998.

Ein Treffen mit Lukaschenko, das Schlagzeilen machte: Titelseite der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ am 23. April 1998.

Es gibt eine Riege in Deutschland, quer durch Wirtschaft und Politik, die auf solche Bedenken immer gepfiffen hat. Ihr prominentester Vertreter ist Gerhard Schröder. Deals mit Diktatoren gerieten zu seinem Markenzeichen. Im April 1998 traf er sich mit Alexander Lukaschenko zum Mittagessen – ein Verstoß gegen EU-Beschlüsse, die schon damals auf eine Isolierung des belarussischen Diktators zielten.

Gerhard Schröder / +++ Nur für die Story von Matthias Koch verwenden +++

„Gerd braucht Hilfe“

Gerhard Schröder ist isoliert wie nie. Weggefährten und alte Freunde des früheren Kanzlers sind mittlerweile verzweifelt: „Man spürt ganz genau: Man erreicht ihn nicht mehr.“

Schröder ließ augenzwinkernd streuen, es gehe doch nur um ein paar „wirtschaftliche Projekte“. So stärkte der damalige niedersächsische Ministerpräsident und Kanzlerkandidat, noch bevor er für sieben Jahre ganz Deutschland regierte, einen Diktator, der schon seinerzeit die Menschenrechte mit Füßen trat.

Kommerz statt Moral im Fall Lukaschenko

Wandel durch Handel? Lukaschenko ließ in den folgenden Jahren, während MAN und Conti in seinem Land investierten, Kritiker und Kritikerinnen reihenweise auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Seine Herrschaft wurde immer brutaler. Der Höhepunkt war 2020 erreicht: Da ließ er Missliebige im Gefängnis bei gekippten Fenstern foltern, damit die Schreie eine abschreckende Wirkung auf Oppositionelle entfalten.

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Vielen mag das Beispiel Lukaschenko wie eine Randnotiz aus vergangenen Tagen erscheinen. Doch es markiert das historische Format der Aufgabe, die jetzt vor Baerbock liegt. Das Problem entstand nicht erst mit Wladimir Putin. Die deutsche Außenpolitik lässt, wenn es um Handel geht, schon seit einem Vierteljahrhundert jedes Gefühl vermissen: das Gefühl für Anstand und Moral ebenso wie das Gefühl für die kommenden Dinge.

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