Gespräch auf Leipziger Buchmesse

Angela Merkel zu ostdeutscher Herkunft: „Ich bin in gewisser Weise eine Migrantin“

Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Veranstaltung im Rahmen der Leipziger Buchmesse auf einer Bühne im Schauspiel Leipzig.

Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Veranstaltung im Rahmen der Leipziger Buchmesse auf einer Bühne im Schauspiel Leipzig.

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Leipzig. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat lange damit gewartet, ihre ostdeutsche Biografie zu thematisieren, weil sie sich nicht verletzlich zeigen wollte. Das sagte Merkel im Gespräch mit dem Chef­redakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“, Giovanni di Lorenzo, im Schauspiel Leipzig. Beide thematisierten bei einem Gespräch das Buch „Was also ist mein Land?“, das Merkel-Rede vereint, auch ihre Rede am Tag der Deutschen Einheit 2021, in der Merkel über ihre DDR-Vergangenheit sprach.

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„Diese Rede war eine meiner letzten Reden, bevor ich aufhörte, Kanzlerin zu sein. Es war immer mein Verständnis, dass ich meine persönliche Verletzlichkeit nicht zu Markte trage“, sagte Merkel. „Ich wollte das Ostdeutsche nicht in den Vordergrund stellen.“ Es habe eines Abschieds bedurft, um das Thema mal anzusprechen. „Ich habe beim Vortragen der Rede gemerkt, dass mich das anspannt, wenn ich über mich spreche.“

Naturwissenschaftliche Bildung – politische Realität

Nach der Wiedervereinigung habe sie sich verändern müssen, auch als sie in die Politik gegangen sei: „Es ist mir schwer­gefallen, mich zu wiederholen, weil ich aus der Naturwissenschaft kam. In der Naturwissenschaft sind sie ein Versager, wenn sie in einem Vortrag zweimal das Gleiche sagen.“ Die Wiederholung sei aber essenziell in der Politik. Daran habe sie sich gewöhnen müssen: „Ich hatte echt Mühe, sieben Minuten mit sprechen voll zu kriegen.“ Irgendwann habe sie aber „einen Schreck gekriegt, dass ich mühelos 45 Minuten labern kann“.

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Sie habe aber im „neuen Deutschland“ mehr Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West festgestellt: „Die Feigen gab es nicht nur in der DDR“, sagte Merkel. „Die Charakter­eigenschaften sind gleich verteilt. Aber es gibt ganz andere Prägungen.“ In der DDR habe man „zwischen den Zeilen lesen und sprechen“ müssen. Für die Westdeutschen habe sich aber nach der Wiedervereinigung wenig verändert, zumindest nicht so viel für die Ostdeutschen. „Ich bin in gewisser Weise eine Migrantin“, so Merkel.

Merkel: Entscheidungen haben Meinungen im Land gespaltet

Merkel lehnte es ab, eine Mitverantwortung für hohe Zustimmungswerte der AfD vor allem in Ostdeutschland zu übernehmen. „Ich habe politische Situationen zu bewältigen gehabt, die zu einer Spaltung der Meinungen in Deutschland geführt haben“, sagte sie. Gleichwohl habe sie kein Verständnis für Menschen, die demokratische Prinzipien verletzen. Merkel antwortete so auf eine Frage ihres Gesprächspartners, ob ihre Politik etwas mit den Wahlergebnissen der AfD zu tun haben könnte.

Sie konzentriere sich auf Menschen, die die demokratischen Werte teilten. Die anderen müsse man versuchen, zurückzuholen. „Bei manchen Menschen ist es schwer, sie zurückzuholen“, sagte Merkel.

Dass sie 2017 - also nach ihrer Flüchtlingsentscheidung 2015 - noch einmal angetreten sei, habe auch den Grund gehabt, dass sie sich gesagt habe: „Ich haue nicht ab nach dieser Entscheidung.“ Sie habe auch in kritischen Situationen weiterhin versucht, mit den Menschen zu sprechen. „Ich bin ja nicht in meinem Kanzleramt versunken und habe das Haus nicht mehr verlassen.“

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Altkanzlerin Merkel: „Ich habe das Amt der Kanzlerin ausgefüllt“

Merkel zeigte sich mit ihrer Förderung von Frauen während ihrer Amtszeit nicht zufrieden. „Ich habe das Ziel, das ich gerne erreicht hätte, nicht erreicht“, sagte sie. Die Zahl der Frauen in ihrer Partei zeige, dass Frauen in der Vergangenheit nicht ausreichend gefördert worden seien. Dass es beispielsweise in der Wirtschaft weniger Frauen als Männer in Führungspositionen gebe, sei dramatisch. „Wir brauchen Parität - überall“, forderte Merkel. Das gelte auch für den Bundestag, „auf welchem Weg auch immer“.

Mit Blick auf sich selbst fällt es Merkel auch heute noch schwer, sprachlich die weibliche Form zu verwenden, wie die Altkanzlerin berichtete. „In der DDR war ich Physiker. Ich war Diplom-Physiker, so stand es in meinem Diplom.“ Inzwischen habe sie sich angewöhnt, von sich als Physikerin zu sprechen. Ansonsten gendere sie nicht, sagte sie. „Ich halte mich immer an den Duden.“

Merkel: „Ich bin zufrieden“

In ihren Memoiren will die Altkanzlerin Einblicke in ihr Leben und ihre Amtszeit geben. Gemeinsam mit ihrer langjährigen Büroleiterin Beate Baumann arbeite sie ihre Kindheit, aber auch ihre Kanzlerschaft auf, sagte sie. „Das schafft Klarheit – Stück für Stück – und fordert aber auch Konzentration.“ Nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft gehe es ihr gut, sagte Merkel und betonte: „Ich bin zufrieden.“

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Das Gespräch mit der ehemaligen Bundeskanzlerin fand vor ausverkauften Haus statt. Die Karten waren nach zwei Tagen vergriffen gewesen. Es hätten noch einmal genauso viele Karten verkauft werden können, derart groß sei der Andrang gewesen, sagte di Lorenzo. Auch vor dem Theater versuchten viele Menschen, noch eine Karte zu erhalten.

Dieser Artikel erschien zuerst bei der „Leipziger Volkszeitung“.

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