Andrej Sacharow wird 100 – vom Bombenbauer zum Menschenrechtler
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Der sowjetische Atomphysiker und Bürgerrechtler Andrej Sacharow beantwortet am 23.12.1986 nach seiner Ankunft auf Jaroslawer Bahnhof in Moskau geduldig die Fragen der zahleichen Journalisten. Der Regimekritiker und seine Ehefrau kehrten nach fast siebenjähriger Verbannung aus Gorki zurück nach Moskau.
© Quelle: picture-alliance / dpa
Moskau. Ob er sich an seinem 100. Geburtstag über den Titel freuen würde, ist mehr als fraglich. Doch es ist ein Fakt, dass Andrej Sacharow der „Vater der ersten sowjetischen Wasserstoffbombe“ ist, die 1953 gezündet wurde und durch die die Sowjetunion im nuklearen Wettlauf mit den USA wieder gleichziehen konnte.
Dem damals 32-jährigen Atomphysiker brachte dieser Durchbruch die ganze Anerkennung seines stalinistischen Heimatlandes ein. Im selben Jahr wählte ihn die sowjetische Akademie der Wissenschaften einstimmig zum jüngsten Vollmitglied und die Staatsmacht überhäufte ihn nur so mit Preisen: dem Leninorden, dem Stalinpreis und dem Titel eines „Helden der Sozialistischen Arbeit“, der höchsten zivilen Auszeichnung der Sowjetunion.
Doch der öffentliche Ruhm machte aus dem jungen Mann keinen linientreuen Genossen des Apparats, wie eine Episode belegt, die sich zwei Jahre später zutrug: Am Abend des 22. November 1955, nach der erfolgreichen Zündung einer weiteren Wasserstoffbombe, gewährte der verantwortliche Hauptmarschall Mitrofan Nedelin dem Erbauer der Bombe das Recht, den ersten Trinkspruch bei der Feier des geglückten Tests auszusprechen.
Sacharow hob das Glas und sagte: „Lasst uns darauf anstoßen, dass unsere Geschosse auf Testgeländen wie heute und niemals in Städten zum Einsatz kommen.“
Atomwaffen und Pazifismus – ein unvereinbarer Gegensatz
Der Ansprache folgte Grabesstille: Jeder im Saal wusste, dass Nedelin die Worte als Anmaßung auffassen würde. Und tatsächlich belehrte der Soldat den Wissenschaftler sogleich mit einer Metapher über eine Großmutter und einen Großvater, die eine „stärke“, der andere „führe“: „Andrej Dimitrijewitsch, Ihre Aufgabe als Forscher besteht darin, zu stärken“, stellte der Hauptmarschall klar, „unsere ist es, militärisch zu führen, das heißt, zu entscheiden, wie Waffen eingesetzt werden.“
Ich trank meinen Cognac und machte für den Rest des Abends keinen Mucks mehr.
Andrej Sacharow
Physiker und Friedensnobelpreisträger
Sacharow erinnerte sich später: „Es schien mir, als würde ich schrumpfen, und ich wurde blass. Alle im Raum schwiegen ein paar Sekunden lang, dann sprachen sie unnatürlich laut. Ich trank meinen Cognac und machte für den Rest des Abends keinen Mucks mehr.“
Ihm war klar, dass die Allegorie des Marschalls kein Scherz war: „Nedelin war es wichtig, meine pazifistische Einstellung als inakzeptabel zurückzuweisen, um mich und alle anderen, die ähnlich denken könnten, in die Schranken zu weisen.“
Der Vorfall erzählt Vieles über den unvereinbaren Gegensatz, dem sich einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts, der zum führenden Dissidenten der Sowjetunion wurde, ein Leben lang ausgesetzt sah – und der über seinen Tod hinaus bis heute schwelt.
Die ersten Todesopfer ließen ihn die Dinge neu begreifen
Als Sacharow sich 1948 dem sowjetischen Kernwaffenprogramm anschloss, tat er das nicht, um im aufziehenden Kalten Krieg für den Kommunismus zu kämpfen. Er war vielmehr davon überzeugt, dass ein nukleares Gleichgewicht die Welt vor der Zerstörung bewahren könnte.
Als er von Witalij Pawlow, dem damaligen Chef der Auslandsabteilung des KGB, über dessen Sicht der Dinge aufgeklärt wurde, sei er fassungslos gewesen, schrieb Sacharow in seinen Memoiren, die er zwischen 1978 und 1989 verfasste: „Um diesen Kampf auf Leben und Tod zwischen Kommunismus und Imperialismus zu gewinnen“, habe Pawlow gesagt, „müssen wir stark sein. Kein menschliches Opfer bei unseren Bombentests ist dafür zu hoch.“
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© Quelle: Reuters
Er habe sich gefragt, ob Pawlow irrwitzige Demagogie betreibe, oder ob er tatsächlich ernst meine, was er sage, schreibt Sacharow. Es sei wohl von beidem etwas dabei gewesen: „Ich betrachtete seine Auffassung als grundlegend falsch. Die Zukunft ist nicht vorhersehbar, und wir sind keine Götter. Wir können die Geschichte daher keiner abstrakten Arithmetik unterwerfen. Vielmehr besteht ein moralischer Imperativ, der uns vorschreibt: Du sollst nicht töten.“
Diese kategorische Haltung resultierte Ende der 1950er Jahre darin, dass Sacharow das sowjetische Kernwaffenprogramm immer stärker missbilligte. Die ersten Todesopfer bei einem Atombombentest in Kasachstan im Jahr 1955, die radioaktive Verstrahlung ganzer Landstriche und die Sorge, jeder nachfolgende Test werde zahllose weitere Opfer fordern, ließen ihn die Dinge neu begreifen.
Eine tragische Ironie bestand darin, dass ausgerechnet Mitrofan Nedelin 1960 bei einem Testunfall einer interkontinentalen ballistischen Rakete auf grausame Weise ums Leben kam. Zerfetzt von dem Flugkörper, der zu früh explodierte, blieben von dem Marschall nur noch geschmolzene Überreste seines Ordens „Held der Sowjetunion“ und Uniformteile übrig.
Ausschluss aus dem sowjetischen Atomprogramm
Sacharow war der Preis für das nukleare Wettrüsten ab irgendeinem Punkt zu hoch, was ihn schließlich zu einer grundsätzlich regimekritischen Haltung antrieb. Er trat für politisch Verfolgte ein, er kritisierte den Raubbau an der Umwelt und brach nach der sowjetischen Invasion in der Tschechoslowakei im August 1968 endgültig mit dem totalitären Sozialismus.
Im Sommer desselben Jahres gelangte auch sein Memorandum „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ in den Westen. Die „New York Times“ druckte die Schrift ab, in der er für eine Überwindung der Systemgegensätze in Ost und West zugunsten einer friedlichen Zusammenarbeit und für einen Sozialismus mit geistiger Freiheit warb. Als Folge wurde er aus dem sowjetischen Atomprogramm ausgeschlossen.
Doch er musste seine Metamorphose zum Menschenrechtler noch deutlich teurer bezahlen. In seiner Sacharow-Biografie von 2002 beschreibt Richard Lourie, wie die Staatsmacht die Daumenschrauben immer stärker zudrehte: Verlust des privilegierten Arbeitsplatzes, Lohnkürzungen, Bespitzelung, Festnahme von Freunden, Prügelattacken, üble Nachrede – vor allem gegen Sacharows zweite Ehefrau Jelena Bonner, die als „jüdische Furie hinter ihm“ beschimpft wurde.
Die Konfrontation spitzte sich weiter zu, als Sacharow 1975 mit dem Friedensnobelpreis für seinen unermüdlichen Einsatz bei der Unterstützung Andersdenkender und seinem Streben nach einer rechtsstaatlichen und offenen Gesellschaft ausgezeichnet wurde. Denn die Ausreise zur Preisverleihung wurde dem Laureaten verboten. Im Dezember 1975 nahm Bonner den Preis in Oslo stellvertretend für ihren Mann entgegen.
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Erst die Verbannung, dann die Erlösung durch Gorbatschow
Doch auch das war noch nicht das Ende der Repression gegen den Mann, den der KGB inzwischen als „Staatsfeind Nummer eins“ einstufte.
Nach seiner scharfen Kritik an der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan im Jahr 1979 wurde Sacharow im Januar 1980 auf dem Weg zum Arbeitsplatz in Moskau festgenommen und nach Gorki (das heutige Nischni Nowgorod) verbannt, eine damals für Ausländer verbotene Stadt, 400 Kilometer östlich von Moskau. Gleichzeitig wurden ihm alle staatlichen Auszeichnungen und Ehrentitel aberkannt.
In der Isolation von Gorki verschlechterte sich Sacharows Gesundheitszustand beträchtlich, weil der KGB ihn durch infamen Psychoterror in Herzinfarkte trieb, und weil er aus Protest immer wieder in den Hungerstreik trat. Im Westen kursierten Gerüchte, er sei nicht mehr am Leben, doch dann tauchten Videos auf, die ihn wie einen Haufen Elend im Krankenhaus in Gorki zeigten.
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Mit der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei im Jahr 1985 wendete sich das Blatt für den Menschenrechtler schließlich. Am 23. Dezember 1986 traf der durch seine Herzschwäche und die Hungerstreiks sichtlich Gezeichnete frühmorgens auf dem Bahnhof in Moskau ein und erklärte dem Empfangskomitee aus Freunden und Journalisten:
„Am 15. Dezember hat man mir in der Nacht ganz unerwartet ein Telefon installiert. Am 16. Dezember rief Michail Sergejewitsch (Gorbatschow, Anm. d. Red.) um 15 Uhr an und bot mir an, nach Moskau zurückzukehren. Und ich antwortete, dass ich für diese Entscheidung dankbar bin.“
Sein gegensätzliches Vermächtnis ist bis heute geblieben
Die Gorbatschowsche Reformpolitik von Glasnost und Perestroika bot Sacharow nach seiner Rückkehr aus der Verbannung ganz neue politische Entfaltungsmöglichkeiten, die er rastlos nutzte: Er gründete die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ und schaltete sich als Parlamentsabgeordneter in die Beratungen über eine neue Verfassung ein.
Den fundamentalen Umbau des Staates und den Zerfall der Sowjetunion erlebte er jedoch nicht mehr mit. Wenige Stunden nach seiner letzten Rede vor der „interregionalen Deputiertengruppe“ starb er am 14. Dezember 1989 im Alter von 68 Jahren nach einem weiteren Herzinfarkt.
Sacharow wurde auf dem Moskauer Wostrjakowo-Friedhof beigesetzt, doch sein gegensätzliches Vermächtnis ist an seinem heutigen 100. Geburtstag aktueller denn je:
Als Russlands Präsident Wladimir Putin 2018 in seiner Rede zur Lage der Nation die Welt etwa auf die neuen Supertorpedos der russischen Streitkräfte hinwies, die in größter Tiefe und von keinem Radar der Welt zu entdecken ihre Ziele mit gewaltigen Sprengladungen attackieren könnten, hörte sich das so an, als ob ein alter Wunschtraum Sacharows in Erfüllung gegangen sei.
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Bundespräsident Richard von Weizsäcker (l) trifft am 8.7.1987 in Moskau mit dem sowjetischen Physiker und Regimekritiker Andrej Sacharow zusammen, der im Dezember 1986 nach mehrjähriger Verbannung aus Gorki nach Moskau zurückgekehrt war. Von Weizsäcker hielt sich vom 6. bis 11. 7. 1987 zu einem Staatsbesuch in der Sowjetunion auf.
© Quelle: picture-alliance / dpa
Denn seinen Memoiren hatte der Menschenrechtler anvertraut, dass er im Rahmen des sowjetischen Geheimprojektes „T-15″ genau solche Unterwassergeschosse entwickeln wollte, um gegnerische Häfen anzugreifen: „Die Grundidee bestand darin“, schrieb Sacharow, „mit einer ganzen Kaskade schwerster Explosionen an der US-Küste eine tödliche Monsterwelle zu erzeugen.“
Natürlich wollte der Humanist Sacharow diese Torpedos niemals zum Einsatz bringen. Er verstand sie vielmehr als ein Mittel der Abschreckung, um die bestehende militärische Überlegenheit der USA durch Waffen auszugleichen, die nicht abgefangen werden können.
Genau dieser Gedanke entspricht der heutigen Militärdoktrin des Kremls der „asymmetrischen Kriegsführung“. Der britische „Observer“ kommentierte das 2018 nach der Rede des Kreml-Chefs mit der Überschrift: „Putin ließ sich von einem sowjetischen Dissidenten zu seinen neuen Superwaffen inspirieren.“
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© Quelle: Reuters
Ausstellung in Moskau abgesagt
Doch Sacharows Erbe ist aus Sicht des Kremls auch eine Belastung. Denn kaum ein Tag vergeht, an dem seine Erfindung „Memorial“ die russische Staatsmacht nicht an die vielen politischen Häftlinge im Land erinnert. In einem Klima immer stärkerer Repressionen mag das der wahre Grund dafür sein, dass die Stadt Moskau mit widersprüchlichen Argumenten eine Ausstellung absagte, die das Moskauer Sacharow-Zentrum aus Anlass seines 100. Geburtstages veranstalten wollte.
Im heutigen Russland ist die These sicher nicht zu steil, dass die Schau wohl stattgefunden hätte, wenn Sacharow beim Bombenbauen geblieben wäre. Doch es ist gerade der Menschenrechtler Andrej Dmitrijewitsch, der am heutigen Freitag an vielen weiteren Orten der Welt mit Ausstellungen geehrt wird, ob in Paris, Vilnius oder Bremen.