Ampelparteien stellen Koalitionsvertrag vor: „Mehr Fortschritt wagen“
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FDP-Chef Christian Lindner (links) und der wohl nächste SPD-Kanzler Olaf Scholz (Zweiter von links) zusammen mit den Grünen Co-Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck (rechts) bei der Vorstellung des gemeinsamen Koalitionsvertrages von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Berlin. Die Ampelparteien halten bis zum Schluss dicht. Das gilt selbst für Kleinigkeiten. So werden die Journalistinnen und Journalisten erst um 14 Uhr in jenen Saal vorgelassen, in dem der Koalitionsvertrag um 15 Uhr präsentiert werden soll. Das Papier selbst wird 20 Minuten vorher an die Redaktionen versandt – zu spät, um es schnell studieren und Fragen danach ausrichten zu können. SPD, Grüne und FDP wollen die Deutungshoheit über ihr 178 Seiten umfassendes Papier behalten.
Um Punkt nach 15 Uhr ist es dann so weit. Der sozialdemokratische Fastkanzler Olaf Scholz betritt die Bühne, gemeinsam mit FDP-Chef Christian Lindner, den SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, den Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock sowie zahlreichen anderen Verhandlern. Der stille Einmarsch hat etwas von einer Prozession. Am Ende bleiben 75 Minuten Zeit für sechs Statements und ein Dutzend Fragen. Viel Transparenz ist das nach Wochen des Schweigens nicht.
„Eine Koalition auf Augenhöhe“
Zunächst kommt Scholz auf die Corona-Krise zu sprechen, die über der Ampel schwebt wie eine große dunkle Wolke. „Corona ist nach wie vor nicht besiegt, leider“, sagt er. „Die Lage ist ernst.“ Dem wolle die neue Regierung begegnen. So solle, womöglich noch vor dem Regierungswechsel in zwei Wochen, ein ständiger Bund-Länder-Krisenstab im Kanzleramt eingerichtet werden, dazu eine Expertengruppe. Daneben stellt Scholz mobile Impfteams in Aussicht sowie eine Bonuszahlung für Pflegekräfte, insgesamt „erst einmal eine Milliarde Euro“.
Scholz: „Die Ampel steht“
Knapp zwei Monate nach der Bundestagswahl steht der Vertrag zur Bildung der ersten Ampelkoalition auf Bundesebene.
© Quelle: Reuters
Anschließend wendet sich der Kanzlerkandidat der Regierung zu und preist die Erfolge der SPD wie den Mindestlohn von 12 Euro, die Einführung einer Kindergrundsicherung und eine stabile Rente. „Meine wichtigste Botschaft lautet: Die Ampel steht“, sagt er und verspricht „eine Koalition auf Augenhöhe mit drei Partnern, die ihre Stärken einbringen zum Wohle unseres Landes“. Die erste Verkehrsampel sei 1924 am Potsdamer Platz in Berlin errichtet worden, weiß Scholz zu berichten. Schon damals hätten sich die Menschen gefragt: „Kann das funktionieren?“
Christian Lindner preist neue politische Kultur
Es ist später der kommende Finanzminister Lindner, der dem Nochfinanzminister Scholz einen Korb voller Komplimente kredenzt. „Wir haben Olaf Scholz neu kennengelernt, wir haben ihn erlebt als starke Führungspersönlichkeit“, sagt er. Auch weil Scholz „ein inneres Geländer“ habe, werde er ein starker Bundeskanzler sein.
Ansonsten kündigt Lindner solide Finanzen an, verzichtet aber darauf, die Errungenschaften der FDP hervorzuheben, sondern erklärt stattdessen: „Was jetzt gebildet wird, ist eine Regierung der Mitte, die das Land nach vorn führt. Wir sind keine Regierung des Ausschließens, sondern der komplementären Politik.“ Der Liberale preist ferner die Diskretion bei den Verhandlungen; sie könnten eine neue politische Kultur prägen. Als er hinzufügt, die Gespräche seien genauso kontrovers gewesen, wie sie diskret gewesen seien, schmunzelt Habeck. Das kann er wohl bestätigen.
Grüne sichern sich Ministerien mit ihren Kernthemen
Abgesehen davon betont Letzterer, dass die neue Regierung eine Klimaregierung sein werde. „Wir sind auf dem 1,5-Grad-Pfad“, sagt Habeck. Tatsächlich hat die Ökopartei alle für den Klimaschutz relevanten Ministerien geholt – mit ihm an der Spitze eines aufgestockten Wirtschaftsministeriums. Bis auf eine Ausnahme: das Verkehrsministerium. Das geht an die FDP. Auch einen höheren CO₂-Preis wird es aus Rücksicht auf die hohen Energiepreise nicht geben.
Personalien spielen bei der Pressekonferenz am Mittwoch nur am Rande eine Rolle. Die Namen der neuen Ministerinnen und Minister hüten insbesondere die Grünen wie ihren Augapfel. Darüber soll am Donnerstag entschieden und später von der Basis abgestimmt werden. Als Scholz gefragt wird, wen denn die SPD als Gesundheitsminister ins Rennen schicken werde – sprich: Karl Lauterbach oder nicht? –, da erwidert er, seine Partei werde „diese Entscheidung gut vorbereiten“. Das klingt eher nicht nach Lauterbach.
Gegen 16.15 Uhr ist die Pressekonferenz unter der Überschrift „Mehr Fortschritt wagen“ vorüber. Die Koalitionäre sind wohl der Ansicht, dass es jetzt reicht. Viele Journalistinnen und Journalisten sind anderer Ansicht.