Alte und neue Blicke auf Auschwitz
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Eine Aufnahme aus dem Januar 2023: Blick auf die Außenanlage des am 27. Januar 1945 von sowjetischen Soldaten befreiten Vernichtungslagers Auschwitz.
© Quelle: IMAGO/NurPhoto
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
Thoralf Cleven aus unserem Berliner Büro liefert heute eine beklemmende, bizarre und berührende Geschichte. Anna, ein Waisenkind aus dem KZ Auschwitz, wird nach Kriegsende von Eltern aus der Sowjetunion adoptiert und lebt fortan bei dem KGB-Major Mychailo Kowal und dessen Frau, der Parteiangestellten Annissija Sasimko, in Kiew.
Anna kennt ihre leiblichen Eltern nicht, sie weiß nicht, wann und wo sie geboren wurde. Sie weiß aber, dass sie als Kind nach Auschwitz deportiert worden war. Und sie weiß, dass ihr dort Menschen in weißen Kitteln Schmerzen zufügten. Die in ihren linken Arm eintätowierte Auschwitz-Nummer ließen Annas Adoptiveltern ärztlich entfernen. „Sie wollten mir einen Neustart ermöglichen, unbeeinträchtigt von der Vergangenheit“, erinnert sich die alte Frau. Dies allerdings machte später die Suche nach Annas Identität schwierig.
Es gibt sowjetische Dokumentarfilme, körnige Schwarz-Weiß-Streifen, in denen Anna zu sehen ist, als ausgemergeltes Kind mit kurz geschorenen Haaren unmittelbar nach der Befreiung des Konzentrationslagers am 27. Januar 1945. Als ihr linker Ärmel hochgezogen wird, erscheint die damals noch vorhandene Tätowierung. „Sie musste die Nummer 69.929 tragen“, erklärt der Sprecher in russischer Sprache. Doch in diesen Bericht hatte sich, wie sich im Jahr 2022 zeigte, ein Zahlendreher eingeschlichen.
KZ-Recherchen im Kriegsjahr 2022
Identifiziert wurde Anna inzwischen, nach langer Suche in diversen Archiven, als „Iwanowa, Anna, 61.929, geb. 1939“ – so steht es in einer vergilbten Keuchhustenmeldung aus dem Jahr 1944 „an den Leitenden Arzt beim Reichssicherheitshauptamt“. Der Name Iwanowa wiederum führte inzwischen zu einer Familie, DNA-Tests bewiesen die Verwandtschaft. Bei den Recherchen im vorigen Jahr halfen ein deutscher Filmemacher, das Stuttgarter Landeskriminalamt und ein ukrainischer Holocaustforscher. Die ganze Geschichte können Sie mit unserem RND-Abo lesen (+).
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Ein spät und mühsam geklärter Fall der Suche nach der eigenen Identität: die KZ-Überlebende Anna Strishkowa und der Mannheimer Fotograf Luigi Toscano 2022 in Kiew.
© Quelle: Luigi Toscano
Ein Rätsel aus der Mitte der Vierzigerjahre ließ sich erst lösen im neuen Kriegsjahr 2022. Wieder rollen Panzer, wieder fallen Bomben: Russland hat einen schlimmen Angriffskrieg gegen die Ukraine angefangen. Der Alte Kontinent erlebt eine neue massive Attacke auf die Würde und die Freiheit von Millionen.
Nichts darf an dieser Stelle jemals gleichgesetzt werden. Die fabrikmäßige Vernichtung von Juden und Jüdinnen und anderen Missliebigen aller Art durch die Nazis bleibt ein einzigartiges Verbrechen. Gewiss wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier diesen Aspekt heute beim Auschwitz-Gedenken im Bundestag unterstreichen (Phoenix überträgt live ab 10 Uhr).
Doch gerade dann, wenn man dies verstanden hat, muss man wachsam sein. Widerstand kommt zu spät, wenn er erst im Moment der systematischen Vernichtung von Menschen versucht wird. Er muss schon im Moment der systematischen Verachtung einsetzen. Etwa wenn Rechtsradikale in Deutschland zur Jagd auf Minderheiten blasen. Oder wenn russische Propagandisten in Wladimir Putins Staatsfernsehen kichernd das Geräusch des Luftalarms in Kiew im Studio nachäffen und dann die hohe Zahl getöteter Zivilisten und Zivilistinnen loben. Wann erhob sich zuletzt ein gewalttätiges Regime so zynisch über ein anderes Volk?
Russland ruiniert sich selbst
Jahrzehntelang hat Russland stolz auf die Befreiung von Auschwitz zurückgeblickt. Inzwischen aber hat Moskau selbst es bewirkt, dass seine Anti-Hitler-Posen aufgesetzt wirken: wie die Maskerade eines neuen Faschismus. Zur makabren Wahrheit gehört unter anderem, dass russische Truppen durch ihre völkerrechtswidrigen Bombardierungen in der Ukraine längst auch Dutzende KZ-Überlebende getötet haben. Den prominenten 96-jährigen Holocaustüberlebenden Boris Romantschenko zum Beispiel traf es bei Raketenangriffen auf Wohnviertel in Charkiw. So ruiniert Russland sich selbst, ebenso wie durch Folter, Vergewaltigungen und Verrohungen aller Art.
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„Mein Land kennt keine Moral mehr“, sagt die russische Journalistin Ksenija Kirillowa.
© Quelle: privat
„Mein Land erlebt gerade nichts Geringeres als das komplette Verschwimmen aller moralischen Maßstäbe“, sagte jüngst die ins Exil geflohene russische Journalistin Ksenija Kirillowa in einem RND-Interview (+). Diese beunruhigende Feststellung ist nichts Antirussisches. Hinter ihr versammeln sich immer mehr Menschen weltweit, unabhängig von Herkunft, Weltanschauung und Religion, die sich Sorgen machen angesichts der gegenwärtigen Aggression Russlands in Europa. Russlands Menschenrechtsverstöße sind heute auch Thema der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg sowie einer Sitzung der EU-Justizministerinnen und ‑minister in Stockholm.
Sich diese grausige Realität klarzumachen ist nicht schön. Es hilft aber bei einer ethischen Selbstvergewisserung als Europäer und Europäerin in schwieriger Zeit. Zurückzublicken auf etwas Einmaliges, aber weit Entferntes, Vergangenes und Verwittertes reicht nicht aus. Leider gibt es heute, 78 Jahre nach Auschwitz, neue Notwendigkeiten, aufzustehen gegen sprachlos machende Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Wir wünschen Ihnen einen guten Start in den Tag,
Ihr Matthias Koch
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Der Tag
Wissen, was der Tag bringt – mit dem Nachrichten-Briefing vom RedaktionsNetzwerk Deutschland. Jeden Morgen um 7 Uhr.
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Zitat des Tages
Ich komme nicht mal zum Radfahren, was ich sonst immer mache jeden Monat.
Ein ORF-Übersetzer
versteht den Skistar Mikaela Schiffrin falsch.
Im Original lautete der Satz: „I’m kind of in an unfortunate time of my monthly cycle.“ Auf Deutsch: „Ich habe gerade nicht den besten Moment in meinem monatlichen Zyklus.“
Wer heute wichtig wird
Kyriakos Mitsotakis (54), Griechenlands Ministerpräsident, sieht sich heute Abend im Parlament in Athen einem Misstrauensvotum gegenüber. Der Konservative, seit 2019 im Amt, blickt auf wirtschaftspolitische Erfolge, hat aber eine Abhöraffäre an den Hacken: Der griechische Geheimdienst EYP hörte zwischen 2020 und 2022 die Handys von Oppositionspolitikern, Ministern und hochrangigen Militärs ab.
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Griechenlands Premier Kyriakos Mitsotakis, hier beim European Youth Day am 23. Januar 2023 in Athen.
© Quelle: IMAGO/ANE Edition
Mitsotakis sagt, er habe davon nichts gewusst. Wenn es in seiner Fraktion keine Abweichler gibt, könnte er das heutige Misstrauensvotum überstehen: Die Konservativen haben 156 von 300 Sitzen im Athener Parlament.
Termine des Tages
Um 14 Uhr beginnt ein wichtiger Kongress der Sozialistischen Partei Frankreichs, die zuletzt mit François Hollande (2012 bis 2017) den Präsidenten stellte und immer wieder das Land prägte. Als der Sozialist François Mitterrand 1981 ins Amt kam, tanzten Menschen nachts auf den Straßen. Inzwischen dümpelt die Partei durch die schwerste Krise ihrer Geschichte. Sie sucht jetzt, bis zum 29. Januar, nach neuen Strategien und einer neuen Spitze.
Verteidigungsminister Boris Pistorius empfängt heute um 14 Uhr seinen rumänischen Amtskollegen Angel Tilvar. Seit dem 1. Januar 2023 ist Deutschland Leitnation für die Very High Readiness Joint Task Force der Nato, die von Rumänien aus mit Awacs-Aufklärungsflugzeugen den Krieg in der Ukraine und russische Militärbewegungen im Schwarzen Meer verfolgt.
Leseempfehlungen
Je mehr Details über den Messerstecher von Brokstedt, einen staatenlosen Palästinenser, bekannt werden, desto mehr Fragen stellen sich. Einen vollständigen Schutz vor Amok laufenden Personen gibt es zwar nie. „Im Fall von Ibrahim A. geht es aber um einen Mann, der mehrfach durch Gewalt- und Sexualdelikte aufgefallen ist“, betont RND-Chefredakeurin Eva Quadbeck im heutigen Leitartikel. Einen derart gefährlichen Mann nach einem Jahr Gefängnis in die Obdachlosigkeit zu entlassen sei „einfach keine gute Idee“.
Es ist ein weit verbreiteter Mythos: Wer bei Internetbuchungen von Flugreisen viel und lange die Preise vergleicht, zahlt am Ende drauf. Doch was steckt wirklich dahinter? Hilft es, den Browserverlauf zu löschen? Maren Tinz vom Reisereporter fand heraus: Es ist kompliziert – mitunter kann der Verlauf auch helfen, die Preise zu senken.
Aus unserem Netzwerk: Maaßen raus aus der CDU?
Die gemeinsame Mitgliedschaft in der CDU mit dem ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen ist für sie unerträglich geworden: Im Interview mit den „Kieler Nachrichten“ bekräftigt die stellvertretende Vorsitzende der Christdemokraten, Karin Prien, ihre Forderung nach einem Rauswurf (+).
Podcast des Tages: Eine Halbzeit mit …
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