USA und Nato verlassen das Kriegsgebiet: Wann haben die Taliban ganz Afghanistan wieder unter Kontrolle?
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Der Terrorismusexperte Professor Peter R. Neumann ist Professor für Security Studies am King’s College London.
© Quelle: imago images/Xinhua
Hannover. Seit Wochen läuft der Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan. Die Soldaten der Bundeswehr haben das Land schon verlassen, die letzten US-Soldaten sollen bis Ende August ausgeflogen werden. Gleichzeitig nehmen die Berichte über Angriffe der Taliban seit Wochen zu. Über die Situation in Afghanistan und die Strategie der Taliban haben wir mit Professor Peter R. Neumann gesprochen, Experte für islamistischen Terror und Gründer des International Centre for the Study of Radicalisation am Londoner King’s College.
Herr Neumann, erleben wir gerade den großen Gegenangriff der Taliban?
Die Offensive der Taliban dauert inzwischen schon fast ein Jahr an. Uns wird dies aber jetzt erst richtig bewusst, weil der Abzug der Nato-Soldaten gerade stattfindet und weil jetzt die sogenannte Fighting Season mit besonders vielen Kämpfen in Afghanistan ist.
Ich rechne damit, dass wir im nächsten Jahr den Sturz der Regierung sehen werden.
Professor Peter R. Neumann,
Experte für islamistischen Terror
Viele der Regionen, auch und besonders im Norden, die bislang von Regierungstruppen gehalten wurden, sind jetzt an die Taliban gefallen. Die Gewinne der Taliban sind ziemlich deutlich zu sehen. Kaum jemand bezweifelt noch, dass Afghanistan nach Abzug aller Nato-Truppen zurück an die Taliban fällt.
War diese Entwicklung in Afghanistan vorhersehbar?
Viele Experten haben damit gerechnet, dass die Taliban innerhalb eines Jahres nach Abzug der westlichen Truppen wieder vor den Toren Kabuls stehen wird. Dass es aber so schnell geht und die Taliban womöglich schon vor dem kompletten Abzug des Westens vor Kabul stehen, das hat keiner erwartet. Die vom Westen unterstützte Regierung in Afghanistan ist offensichtlich noch schwächer, als die pessimistischsten Prognosen es vorausgesehen haben.
Warum haben die Taliban gerade jetzt einen so großen Erfolg mit ihren Angriffen?
Durch den Rückzug des Westens hat sich das Gleichgewicht der Kräfte in Afghanistan deutlich verändert. Die Taliban sehen jetzt wieder ihre Chance, Gebiete zurückzugewinnen, und diese Chance nutzen sie natürlich. Die Regierungstruppen sind zwar in der Überzahl, aber sie sind nicht in der Lage und oft auch nicht willens, gegen die Taliban zu kämpfen.
Wir sehen hier so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Weil alle Soldaten glauben, es kämpft keiner mehr gegen die Taliban, kämpft am Ende tatsächlich keiner mehr. Die Taliban können dadurch vordringen, ohne lange kämpfen zu müssen. Man gewinnt beinahe den Eindruck, Afghanistan wird den Taliban freiwillig überlassen.
Wann haben die Taliban Afghanistan wieder unter Kontrolle?
Das hängt vor allem von der Geschwindigkeit ihres weiteren Vormarsches und den laufenden Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Doha ab. Ich rechne damit, dass wir im nächsten Jahr den Sturz der Regierung sehen werden. Kein dramatischer Sturz, aber ein Wechsel an der Spitze des Landes.
Dabei war der Plan eigentlich, das afghanische Militär gut auszubilden, damit es sich selbst verteidigen kann. Was ist schiefgelaufen in Afghanistan?
Es ist dem Westen in den letzten 20 Jahren nicht gelungen, eine geschlossene Armee in Afghanistan zusammenzustellen. Die Soldaten müssen nicht nur trainiert werden, sie müssen auch gegen die Taliban kämpfen wollen. Aber wir sehen im Moment, dass die meisten Soldaten gar nicht kämpfen. Es ist nicht gelungen, einen Staat aufzubauen, für den die Soldaten kämpfen wollen.
Welche Strategie verfolgen die Taliban?
Die Strategie der Taliban ist viel cleverer als früher, vor etwa 25 oder 30 Jahren. Sie geben sich versöhnlicher, erlauben Mädchen, zur Schule zu gehen, und zeigen sich offen gegenüber Minderheiten. Auch das strategische Vorgehen hat sich geändert: Sie versuchen jetzt, alle Grenzen des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen und so das ganze Land abzuriegeln.
Außerdem führen die Taliban Gespräche in Doha mit der afghanischen Regierung und machen deutlich, dass sie nicht wie früher um Kabul kämpfen wollen. Sie wollen keinen Bürgerkrieg. Stattdessen wollen die Taliban die bestehende Regierung friedlich ablösen. Um ein Blutvergießen und ein Eingreifen des Westens zu vermeiden, könnten einzelne Regierungsmitglieder einen Platz in der Regierung der Taliban bekommen.
Sind die Taliban also friedlicher geworden?
Sie sind zumindest pragmatischer. Die Taliban sind clever genug, um sich in der ersten Periode der Machtübernahme zurückzuhalten und tolerant zu geben. Dazu gehört auch, scharf gegen internationale Terroristen vorzugehen. Denn genau das erwartet der Westen von ihnen.
Sie wollen keinen globalen Dschihad, sondern ihr Fokus liegt ausschließlich auf Afghanistan.
Professor Peter R. Neumann,
Experte für islamistischen Terror
Sie werden also nicht am Tag nach der Machtübernahme öffentliche Hinrichtungen sehen oder Frauen, die gesteinigt werden. Die Taliban wissen, dass die ganze Welt auf Afghanistan schaut. Dennoch bleiben die Taliban eine sehr konservative, fundamentalistische Gruppe.
Aber offenbar schmieden die Taliban neue Allianzen, zuletzt waren sie zu Gast beim Außenminister Chinas.
Es war für mich interessant zu sehen, dass die Taliban völlig ignorieren, was China mit den Uiguren und der eigenen muslimischen Bevölkerung macht. Die Taliban orientieren sich nur an dem, was ihnen China für ihr Land bringen kann.
Das zeigt uns aber gleichzeitig, dass die Taliban keine globale Agenda verfolgen und damit eben doch anders sind als Al-Kaida und der „IS“. Sie wollen keinen globalen Dschihad, sondern ihr Fokus liegt ausschließlich auf Afghanistan. Wenn sie beim Aufbau des Landes wirtschaftliche Hilfe aus China erhalten können, nehmen sie die offenbar gern an.
Gibt es denn Hoffnungen auf ein stabiles Afghanistan in den nächsten Jahren?
Den USA und den Nato-Verbündeten ist am wichtigsten, dass von Afghanistan keine Bedrohung für den Westen ausgeht. Die Taliban können daher an die Macht kommen, solange sie keine terroristischen Gruppen im Land tolerieren. Ob innerhalb von Afghanistan Frauen leiden und Minderheiten unterdrückt werden, ist dem Westen anscheinend egal. Eine solche Form von Stabilität könnte es mit der Taliban durchaus geben. Das langjährige Ziel der Afghanistan-Mission, die Menschen vor der fundamentalistischen Agenda der Taliban schützen zu wollen, haben wir aufgegeben. Die Wahrheit ist: Das Ziel eines demokratischen Afghanistans ist schon lange gescheitert. Das wird jetzt offensichtlich.
RND