Afghanistan zwischen Taliban und „Islamischem Staat“
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Ein Mitglied der Taliban am Ort der Explosion nahe des Flughafens von Kabul.
© Quelle: imago images/Xinhua
Berlin.Wie weiter in Afghanistan? Nach dem verheerenden Terroranschlag in Kabul, bei dem am Donnerstag mehr als 100 Menschen starben, stellt sich diese Frage mit noch größerer Dringlichkeit.
Die Bundeswehr und weitere westliche Staaten haben ihre Evakuierungsflüge bereits eingestellt, bis zum 31. August wollen auch die USA den letzten ihrer Soldaten aus Afghanistan abziehen. Doch noch immer befinden sich etwa 300 Deutsche in dem Land und weitaus mehr afghanische Ortskräfte und andere besonders gefährdete Personen.
Um diese sicher außer Landes zu bringen und weitere Terroranschläge zu verhindern, erscheinen die Taliban immer mehr als wichtiger Verhandlungspartner des Westens. Denn für den Anschlag am Flughafen zeichneten nicht die neuen Machthaber verantwortlich, sondern die mit ihnen verfeindete Gruppe ISIS-K, der regionale Ableger der Terrormiliz IS.
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© Quelle: Reuters
Die USA teilen bereits Geheimdienstinformationen mit den Taliban, um Anschläge des IS zu verhindern, wie der Kommandeur des Zentralkommandos der US‑Streitkräfte, General Kenneth McKenzie, am Donnerstag erklärte.
Der außenpolitische Sprecher der Grünen im Deutschen Bundestag, Omid Nouripour, warnt jedoch davor, die Taliban nun zu Partnern in der Terrorismusbekämpfung zu erheben. „Jetzt aus Angst vor Terroristen mit den zweitschlimmsten Terroristen zusammenzuarbeiten, ist eine furchtbare Idee“, sagte Nouripour dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Taliban hätten schon ihre Zusage an die USA nicht eingehalten, die Kooperation mit Al-Kaida einzustellen.
„Natürlich muss man jetzt mit den Taliban darüber reden, wie man Leute aus Afghanistan rauskriegt“, sagte Nouripour, „so wie man mit Geiselnehmern redet.“ Mit Geiselnehmern darüber zu sprechen, „wie man andere Geiselnehmer bekämpft“, sei jedoch kompletter Wahnsinn. Durch eine solche Herangehensweise würden die Taliban aufgewertet, und es werde ein Zeichen in die Welt gesendet, „dass es schon okay ist, wenn Milizen einfach eine Verfassung überrollen“.
„Wir können nicht mit den Taliban kooperieren, um ISIS zu bekämpfen, wir können auch nicht mit denen darüber reden, wie wir die Zahl aus Afghanistan fliehender Menschen gering halten oder denen Geld für Entwicklungshilfe geben – als wären die Taliban an der Entwicklung Afghanistans interessiert“, sagte der Grünen-Politiker.
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© Quelle: dpa
Für derartige Situationen gebe es ein „klassisches Drehbuch“, das sei jedoch „anscheinend irgendwo zwischen Washington und Berlin verloren gegangen“. Wenn eine Miliz einfach eine legitime Regierung und eine Verfassung überrolle, gelte als Erstes, dass man sie nicht anerkennt. „Die Art und Weise in der jetzt anscheinend Kooperationen laufen sollen, ist das Gegenteil davon“, beklagte Nouripour.
„Als Zweites spricht man mit der legitimen Regierung. Das hat bisher niemand gemacht. Als Drittes denkt man über Sanktionen oder andere Druckmittel nach. Nichts davon passiert gerade.“
Kanada habe schnell erklärt, die Taliban als Regierung Afghanistans nicht anzuerkennen, und alles spreche dafür, dass das richtig ist. „Doch nichts dergleichen ist bisher von der Bundesregierung erfolgt.“
„Die ganze Situation wäre vermeidbar gewesen, hätte man rechtzeitig gehandelt.“ Jetzt müsse man alles dafür tun, um deutsche Staatsbürger, Ortskräfte und andere Schutzbedürftige aus Afghanistan rauszuholen. „Die Bundesregierung hat uns in eine verheerend schwache Position gebracht und es damit versäumt, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“, so Nouripour.
Unterdessen rechnet der Terrorismusexperte und Gründer des International Centre for the Study of Radicalisation am Londoner King’s College, Peter Neumann, mit einer weiteren Zunahme von IS‑Anschlägen in Afghanistan.
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© Quelle: Reuters
Der Abzug des Westens habe nicht nur zur Machtübernahme der Taliban geführt. „Auch die internationale Terrorbekämpfung von Gruppen wie dem IS wurde damit beendet. Der IS findet jetzt ein Machtvakuum vor und versucht sich auszubreiten“, sagte Neumann dem RND.
Die kurzfristige Absicht des jüngsten Anschlags sei es, „den Abzug der westlichen Truppen zu stören und westliche Ziele rund um den Kabuler Flughafen zu treffen“. Langfristig wolle der IS jedoch eine „chaotische, bürgerkriegsähnliche Situation“ in Afghanistan schaffen, ähnlich der Lage in Libyen.
„Das sind Situationen, in denen der IS erfolgreich ist, weil sich dort Menschen nach einer Ordnungsmacht zurücksehnen, auch wenn es eine Schreckensmacht ist“, so Neumann. Deshalb werde es noch weitere, auch gegen die Taliban gerichtete Anschläge geben – denn der IS habe einen Alleinvertretungsanspruch und dulde keine konkurrierenden Gruppen neben sich.
Der Nahostexperte und Islamwissenschaftler Reinhard Schulze erklärt: „Der sogenannte IS hat im Osten Afghanistans einen großen sozialen Rückhalt. Sonst ist er nur in kleinen Nischen in Afghanistan vertreten, dort aber recht stark verankert.“
Bereits in den letzten Wochen habe der IS mit Anschlägen in Kabul versucht, seine Macht zu demonstrieren, zum Beispiel beim Anschlag auf eine Mädchenschule und Journalisten. Möglicherweise ziele der Anschlag darauf ab, die USA wieder an den Einsatzort Afghanistan zu binden, um die Amerikaner dort weiter angreifen zu können.
Der Anschlag könne aber auch als Machtdemonstration verstanden werden: „Der IS will zeigen, dass er in Afghanistan das Sagen habe und dass es keinen Unterschied zwischen den USA und den ‚abtrünnigen‘ Taliban gebe.“
Schulze verweist darauf, dass der Westen kein Rezept gegen den sogenannten IS habe. Es handele sich um hochbewaffnete und hochmotivierte Gruppen. „Das ist eine Art religiöses Kartell, das sich nicht einfach wegbomben lässt.“ Für Deutschland, die USA und andere ausländische Truppen sei es daher äußerst schwierig, gegen die Gruppe militärisch vorzugehen.
Der Westen könne nur versuchen, dem IS seine sozialen und politischen Ressourcen zu kappen. „Ein großer Teil der IS‑Anhänger in Afghanistan kommt aus anderen Ländern. Der Westen muss daher verhindern, dass der IS transnational Kämpfer und Selbstmordattentäter rekrutiert“, sagt Nahostexperte Schulze dem RND.
Mit Blick auf die angedrohte Vergeltung der USA warnt Schulze vor den Risiken: „Wenn die USA mit einem Drohnen- und Bombenkrieg wie 2017 gegen den IS vorgehen, könnte dies eine Radikalisierung der Bevölkerung gegen die USA zur Folge haben und die Legitimität der Taliban ausgehöhlt werden.“ Wenn die USA jedoch erreichen wollen, dass vom afghanischen IS‑Ableger keine Gefahr ausgehe, sei Biden auf die Zusammenarbeit mit den Taliban angewiesen.