Amerikas Flucht aus Afghanistan: Bidens Saigon liegt am Hindukusch

Schnell weg: US-Präsident Joe Biden flog am Donnerstag mit dem Hubschrauber nur von Washington in seine Heimatstadt Wilmington. Doch angesichts des überstürzten Rückzugs der Amerikaner aus Afghanistan wirkte die Szene symbolhaft.

Schnell weg: US-Präsident Joe Biden flog am Donnerstag mit dem Hubschrauber nur von Washington in seine Heimatstadt Wilmington. Doch angesichts des überstürzten Rückzugs der Amerikaner aus Afghanistan wirkte die Szene symbolhaft.

Washington. Ganz offensichtlich mochte Joe Biden keine Fragen gestellt bekommen. Mit mehr als zweistündiger Verspätung hatte er am Donnerstag (Ortszeit) im East Room des Weißen Hauses seinen Plan zur Senkung der Arzneimittelpreise vorgetragen, der an diesem Tag die meisten Zuhörer nur mäßig interessierte.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Kaum war der Text vom Teleprompter abgelesen, schritt der amerikanische Präsident entschlossen zur Tür. „Ist Afghanistan verloren?“, rief ihm ein Journalist hinterher. Eine Antwort bekam er nicht.

Anhänger der militant-islamistischen Taliban patrouillieren in der Stadt Gasni im Osten Afghanistans. Die Taliban haben die Provinzhauptstadt in der Nähe von Kabul eingenommen.

Anhänger der militant-islamistischen Taliban patrouillieren in der Stadt Gasni im Osten Afghanistans. Die Taliban haben die Provinzhauptstadt in der Nähe von Kabul eingenommen.

Angesichts der dramatischen Entwicklung am Hindukusch deutet vieles darauf hin, dass die defätistische Annahme des Reporters keinesfalls übertrieben ist: Wie Dominosteine fallen gerade die afghanischen Provinzhauptstädte an die militant-islamistischen Taliban.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Stolz posieren die radikalen Gotteskämpfer mit amerikanischen Humvee-Militärtrucks und Gewehren aus US-Produktionen für die erschrockene Weltgemeinschaft. Stündlich verschlechtert sich die Sicherheitslage vor Ort. Schon im nächsten Monat, so fürchten amerikanische Experten inzwischen, könnte die Hauptstadt Kabul fallen.

Eigentlich wollte Biden sein Infrastrukturpaket feiern

Joe Biden, der in diesen Tagen eigentlich den überparteilichen Erfolg seines gewaltigen Infrastrukturpakets feiern und danach in den Urlaub fahren wollte, droht nach einem 20-jährigen Krieg, der Amerika mehr als 830 Milliarden Dollar kostete, eine gewaltige außenpolitische Schmach.

Im April hatte der Präsident den geordneten Abzug der US-Truppen zunächst bis zum Jahrestag der Terroranschläge am 11. September und dann bis zum 31. August angekündigt. Nun muss er stattdessen zusätzliche Soldaten schicken, um eine chaotisch wirkende Evakuierung abzusichern – von den drohenden Gräueltaten gegen Helfer und Verbündete seines Landes ganz zu schweigen. Die Stimmung im Weißen Haus, schreibt die „New York Times“, schwanke zwischen Besorgnis und Resignation.

Traumatische Erinnerung: Nach dem verlorenen Vietnam-Krieg wurden im April 1975 die letzten US-Bürger mit einem Hubschrauber vom Dach der Botschaft in Saigon ausgeflogen.

Traumatische Erinnerung: Nach dem verlorenen Vietnam-Krieg wurden im April 1975 die letzten US-Bürger mit einem Hubschrauber vom Dach der Botschaft in Saigon ausgeflogen.

Das demütigende Bild des Hubschraubers auf dem Dach der US-Botschaft, der 1975 nach dem Fall von Saigon eilig die letzten Amerikaner aus dem Land schaffen musste, ist in Washington derzeit allgegenwärtig.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

„Die Botschaft bleibt offen“, insistierte Ned Price am Donnerstag geradezu trotzig. Dem Sprecher des Außenministeriums war die undankbare Aufgabe zugefallen, die dramatische Kehrtwende seiner Regierung zu verkünden. Tagelang hatte man in Washington Zuversicht demonstriert, dass die Regierung von Aschraf Ghani die Lage in Afghanistan unter Kontrolle habe.

Nun gab Price die eilige Reduzierung des amerikanischen Botschafts­personals in Kabul auf ein Minimum und die Entsendung von insgesamt 8000 Soldaten in die Region bekannt. Eindringlich mahnte zugleich die Botschaft sämtliche Amerikaner, Afghanistan so schnell wie möglich zu verlassen.

Rund 3000 Army-Infanteristen und Marines sollen spätestens bis zum morgigen Samstag in Kabul landen und dort zusammen mit den während des bisherigen Abzugs verbliebenen 1000 US-Soldaten die überstürzte Evakuierung absichern. Tausend weitere Soldaten werden zur Unterstützung auf einen Stützpunkt ins Emirat Katar und 4000 nach Kuwait verlegt.

Schon kursieren in Washington Gerüchte, dass die US-Botschaft in Kabuls Innenstadt geschlossen und zum Flughafen verlegt werden soll, um das Personal im Notfall schneller ausfliegen zu können. Am Freitagmorgen meldete der renommierte US-Sender NPR, dass die Angestellten eilig Kisten packen und sensible Unterlagen und Kommunikations­technik zerstören.

Offenbar hat die Biden-Regierung die Entschlossenheit der Taliban, trotz laufender Friedensverhandlungen auf brutale Weise Fakten zu schaffen, ebenso fatal unterschätzt, wie sie die Stärke und Moral der Regierungstruppen überschätzt hat. Mindestens sechs Monate werde sich die Regierung Ghani nach dem endgültigen Abzug der Amerikaner noch halten, hatten die US-Geheimdienste im Juni noch vorausgesagt. Nun scheint die staatliche Gewalt binnen Wochen oder gar Tagen regelrecht zu kollabieren.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Der Präsident bereut nichts

Am Dienstag noch stand Biden im East Room des Weißen Hauses und demonstrierte Entschlossenheit. Ob er die Entscheidung zum Abzug revidieren wolle, wurde er da gefragt. „Nein“, antwortete der Präsident fest, „ich bereue nichts.“ Zugleich machte er ungewöhnlich deutlich klar, wen er in der Verantwortung für die Zukunft des Landes am Hindukusch sieht – die Afghanen: „Sie müssen zusammenkommen“, forderte er: „Sie müssen für sich selbst kämpfen und für ihre Nation.“

Das aber scheint ohne amerikanische Luftunterstützung mit einer demoralisierten und von Korruption durchsetzten Truppe eher schlecht zu funktionieren. Doch auch der zweite Teil der amerikanischen Strategie geht nicht auf. „Dringend“ ermahnte Bidens Sprecherin Jen Psaki in dieser Woche die Taliban, den vereinbarten Friedensprozess einzuhalten, und drohte: „Diese Aktionen werden ihnen nicht die internationale Anerkennung bringen, die sie suchen.“ Die Eroberung von mehr als einem Dutzend Provinzhauptstädten vermittelt nicht den Eindruck, dass dieses Argument die Islamisten sonderlich beeindruckt.

Entsprechend kritisch sind nun die Kommentare in den amerikanischen Zeitungen. „Bidens Abzug droht zum Desaster zu werden“, schrieb am Freitag die „Washington Post“. Das „Wall Street Journal“ sprach von einem „Debakel“ nicht nur für Afghanistan: „Wenn die Gesetzeslosen dieser Welt spüren, dass einer Supermacht der Wille fehlt, ihre Freunde zu schützen, werden sie bald nach anderen Wegen suchen, das auszunutzen.”

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Ausgerechnet Donald Trump übt nun laute Kritik

Zur Wahrheit gehört freilich, dass nicht Biden, sondern sein Vorgänger Donald Trump nach obskuren Verhandlungen mit den Taliban und ohne Rücksprache mit den Alliierten im Februar 2020 den amerikanischen Abzug vereinbart hatte. Biden zögerte den ursprünglich zugesagten Abschluss im April dieses Jahres sogar noch um ein paar Monate hinaus.

Das hindert Trump nun nicht daran, in einer Presseerklärung seinen Nachfolger für das „Chaos“ verantwortlich zu machen und zu behaupten, unter seiner Regierung wäre der Abzug „ganz anders und viel erfolgreicher“ verlaufen, weil die Taliban ihn ernst genommen hätten.

Doch auch Trump-kritische Republikaner wie der Abgeordnete Adam Kinzinger, der als Air-Force-Pilot im Irak und in Afghanistan gekämpft hatte, üben scharfe Kritik: „Wir stehen vor einem Desaster, nicht weil wir geschlagen wurden, sondern weil wir aufgegeben haben“, twitterte er. „Dafür sind Trump und Biden gemeinsam verantwortlich.“

Ein öffentlicher Stimmungsumschwung in den USA für eine erneute militärische Intervention scheint gleichwohl eher unwahrscheinlich. Bei Umfragen im Frühjahr stimmten regelmäßig zwischen 60 und 70 Prozent der Bevölkerung dem Abzug der Truppen zu. „Die rasanten Erfolge der Taliban in Afghanistan unterstreichen die Sinnlosigkeit der dauernden Besatzung“, brachte der ehemalige republikanische Kongressabgeordnete Justin Amash das Empfinden vieler US-Bürger auf den Punkt: „Die Vereinigten Staaten waren außerstande, die Umstände während eines 20-jährigen Krieges sinnvoll zu verändern.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Der inzwischen zur Libertären Partei gewechselte Politiker formulierte eine ebenso provokative wie frustrierende These: „Wir hätten dieselben Resultate gesehen, wenn wir vor 15 Jahren oder in 15 Jahren gegangen wären.“

Mehr aus Politik

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken