Straf- und Überwachungssystem mit Religionspolizei? Wie Afghanistan unter den Taliban aussehen könnte
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Schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer patrouillieren nach ihrer Machtübernahme durch Kabul.
© Quelle: Rahmat Gul/AP/dpa
Bern. In den Medien ist der Afghanistan-Umbau der Taliban schon zu sehen: Moderatorinnen, die nicht mehr im TV auftreten dürfen, und Privatsender, die westliche Serien aus dem Programm werfen. Doch das dürfte erst der Anfang sein. Die Taliban haben eine eigene Vorstellung von der Scharia und planen politische und religiöse Veränderungen nach ihrer Machtübernahme. Wie sieht ein Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban aus? Antworten auf diese und weitere Fragen gibt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze, emeritierter Professor für Islamwissenschaft und Direktor des Forums Islam und Naher Osten der Universität Bern.
Herr Schulze, wie sieht ein Afghanistan aus, wenn die Taliban ihre Vorstellungen einer Scharia einführen?
Die Taliban werden erneut versuchen, ein strenges Straf- und Überwachungssystem zu implementieren. Es wird eine Religionspolizei geben und Institutionen zur Kontrolle sozialer Normen. Auch das Strafrecht werden die Taliban für sich beanspruchen. Daneben wird es eine Regierung geben, die aber wohl nicht der islamischen Ordnung unterstellt sein wird. Das kennen wir aus dem Iran, wo es ein vergleichbares duales System gibt.
Besteht dann nicht die Gefahr eines Konfliktes, wenn sich politische Entscheidungen gegen religiöse Normen richten?
Dieses Risiko besteht in der Tat, und das erfordert von den Taliban ein hohes Maß an Regierungsgeschick. Einen solchen Konflikt können wir permanent im Iran beobachten. Möglicherweise lässt sich aber ein größerer Konflikt in Afghanistan vermeiden, indem es wie im Iran neben dem religiösen Oberhaupt, das wäre Molla Akhundzada, einen Regierungschef gibt, der ebenfalls aus der Führungsriege der Taliban stammt. Abdul Ghani Baradar wird bereits als künftiger Regierungschef gehandelt und könnte eine solche Doppelrolle ausfüllen.
Wie verändern die Taliban Afghanistan?
Was sind die größten Unterschiede zwischen der aktuellen Verfassung in Afghanistan und den Rechtsvorstellungen der Taliban?
Die großen Unterschiede bestehen im Umgang mit Frauen und in vielen Bereichen des Strafrechts. Die aktuelle Auslegung islamischen Rechts sieht zum Beispiel vor, dass Menschen wegen Diebstahls ins Gefängnis kommen.
„Die Taliban werden als Erstes durchsetzen, dass Frauen auf der Straße gesittet gekleidet sind. Das bedeutet, sie müssen einen Kopfschleier und möglicherweise auch einen Gesichtsschleier tragen.“
Prof. Dr. Reinhard Schulze,
Direktor des Forums Islam und Naher Osten der Universität Bern
Nach Auffassung der Taliban sind aber je nach Schwere der Tat auch Amputationen möglich.
Gibt es Verbote, die mit der Taliban-Vorstellung einer Scharia auf jeden Fall kommen werden?
Die Taliban werden als Erstes durchsetzen, dass Frauen auf der Straße gesittet gekleidet sind. Das bedeutet, sie müssen einen Kopfschleier und möglicherweise auch einen Gesichtsschleier tragen. Das ist eine symbolische Politik der Taliban, um ihre Macht zu demonstrieren. Ich rechne aber nicht damit, dass es auch für Männer Vorschriften geben wird, zum Beispiel sich einen Bart wachsen zu lassen.
Wenig Rechte für Frauen: Kritik an Scharia-Vorstellungen der Taliban
Immer wieder gab es Kritik an der Scharia, weil die Rechte der Frauen stark beschnitten werden. Ist das tatsächlich so?
Nun, in Afghanistan rührt die Beschneidung der Frauenrechte vornehmlich auf der paschtunischen Tradition, die die Taliban mit ihrer puritanischen Orthodoxie rechtfertigen. Die Paschtunen haben einen Moralkodex, der den Frauen eine bestimmte soziale Rolle zuweist. Dieser Kodex wurde von den Taliban mit islamischen Vorstellungen zusammengebracht. Plötzlich galt der Sittenkodex der Paschtunen als islamisch. Doch nur die Taliban sehen diesen Sittenkodex als islamisch an, andere Muslime nicht.
Die Taliban hatten zuletzt angekündigt, die Rechte der Frauen im „Rahmen der Scharia“ zu gewähren.
Das ist nur eine rhetorische Floskel. Die Taliban sagen damit, dass Beschlüsse über die Rechte von Frauen mit den gleichen Regeln getroffen werden, wie auch islamisches Recht funktioniert. Es geht also nur um die Methodik, wie über die Rechte von Frauen entschieden werden soll. Egal, zu welchem Ergebnis die Taliban dabei kommen, werden diese Beschlüsse als schariakonform definiert werden.
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Wie ist die aktuelle Rechtssituation in Afghanistan?
Die bestehende Verfassung wird bereits als Ergebnis einer islamischen Rechtsfindung interpretiert wird, also als eine Scharia. Die Taliban können daher keine Scharia mehr in Afghanistan einführen, weil die Scharia sozusagen schon seit Jahren da ist.
Die Taliban haben aber ganz andere Vorstellungen von der Scharia. Sie müssen sich vorstellen: Wenn die Taliban der Ansicht sind, dass beim Autofahren das Radiohören verboten ist, bezeichnen sie ihre Rechtsetzung als mit der Scharia übereinstimmend. Genauso können sie aber auch behaupten, dass eine solche Rechtsetzung unsinnig ist und dies als schariakonform bezeichnen.
Die Taliban legen also die Rechtssätze aus, wie es ihnen gerade passt?
Genau so ist es. In vormodernen Zeiten war man sich einig, dass widersprüchliche Auslegungen nebeneinanderstehen können. Es gab über viele Jahrhunderte einen typisch islamischen Rechtspluralismus. Hintergrund ist, dass der Mensch nach theologischer Auffassung nicht in der Lage ist, den Schöpfungswillen Gottes exakt zu benennen. Daher kann auch keiner für sich in Anspruch nehmen, dass nur die eigene Rechtsmeinung richtig sei. In der Moderne ist diese Vorstellung aber verloren gegangen.
Schulze: „Rechtsplurale Situation in Afghanistan“
Wenn die Rechtsfindung zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann, gelten dann unter den Taliban in Afghanistan in allen Regionen überhaupt die gleichen Regeln?
Es ist der Traum der Taliban, eine rechtsverbindliche Ordnung für ganz Afghanistan herzustellen. Das haben sie bereits 1996 versucht, sind aber gescheitert. Heute haben sie daraus gelernt und werden eher eine rechtsplurale Situation in Afghanistan schaffen. Im eher westlich geprägten Kabul wird es andere Regeln geben müssen als zum Beispiel in Herat und Dschalalabad.
Lassen sich diese unterschiedlichen Regeln denn überhaupt rechtfertigen?
Ja, denn das gab es in Afghanistan und einigen anderen Ländern schon lange. Das Tragen einer Burka war zum Beispiel in ländlichen paschtunischen Regionen verpflichtend, darüber hinaus aber nicht. Die Afghanen kennen also regional unterschiedliche Rechtsauffassungen.