Tausende Afghanen suchen in Kabul Schutz vor Kämpfen – Behörden heillos überfordert
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Binnenvertriebene aus den nördlichen Provinzen, die aufgrund von Kämpfen zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften aus ihrer Heimat geflohen sind, essen in einem öffentlichen Park in Kabul.
© Quelle: Rahmat Gul/AP/dpa
Kabul. Die Soldaten der Regierung konnten die Offensive bisher nicht stoppen. Große Gebiete Afghanistans sind bereits wieder in der Hand der militant islamistischen Taliban. Berichte über Gräueltaten häufen sich. Um der Gewalt zu entkommen, suchen Bewohner der betroffenen Städte und Dörfer Schutz in Kabul. Viele von ihnen haben in Parks oder auf Straßen ihr Lager aufgeschlagen. Unterstützung von offizieller Seite erhalten sie kaum.
Mehrere Familien beschrieben der Nachrichtenagentur AP, wie der Norden des Landes von Raketeneinschlägen, Schusswechseln und Luftangriffen erschüttert wird. Immer wieder sind ihren Angaben zufolge auch Zivilpersonen unter den Opfern. In einigen Städten sollen die Taliban gezielt männliche Angehörige von Sicherheitskräften getötet haben. Zudem hätten die Extremisten schnell auch wieder die Rechte der Frauen eingeschränkt.
Wut auf die Regierung
Die jüngsten Entwicklungen bestärken die Sorge, dass Afghanistan nach dem Abzug der internationalen Truppen wieder komplett unter Kontrolle der Taliban geraten könnte. Die Wut der Geflüchteten richtet sich zum Teil aber auch gegen die Regierung. Fausia Karimi stammt aus der Stadt Kundus. Sie sagt, die afghanischen Streitkräfte hätten dort gar nicht versucht, die heranrückenden Taliban aufzuhalten. Stattdessen bombardierten sie nun ihr Wohnviertel, seit dieses in der Hand der Extremisten sei.
„Wenn die Regierung nichts ausrichten kann, sollte sie wenigstens diese Angriffe einstellen und die Taliban herrschen lassen“, sagt Karimi. Sie habe sich mit ihren fünf verbliebenen Kindern auf die Flucht in Richtung Kabul begeben, nachdem das Haus eines Nachbarn bei einem Luftangriff getroffen worden sei. Ihr 16-jähriger Sohn sei bereits vor drei Monaten in einem Kreuzfeuer getötet worden.
Mehr als 60.000 Menschen allein in Kundus geflüchtet
Karimi ist eine von Hunderten aus dem Norden des Landes, die aktuell in einem zentralen Park in Kabul leben. Seit Tagen schlafen Männer, Frauen und Kinder bei großer Hitze im Freien. Viele von ihnen haben nicht genügend zu essen und zu trinken. Einige haben Decken aufgespannt, um zumindest einen Hauch von Privatsphäre zu ermöglichen.
Die Offensive der Taliban habe seit dem Wochenende allein in Kundus mindestens 60.000 Menschen, mehr als die Hälfte davon Kinder, in die Flucht geschlagen, erklärte die Organisation Save the Children. Einige hätten vergleichsweise ruhige Teile der Stadt aufgesucht und hielten sich dort jetzt ohne Zugang zu Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung im Freien auf.
„Märkte sind zerstört worden und mittlerweile überwiegend geschlossen. Viele Familien können sich daher nirgendwo mehr etwas zu essen besorgen“, sagt Christopher Nyamandi, der die Aktivitäten von Save the Children in Afghanistan leitet. Laut seiner Organisation sind seit Anfang der Woche landesweit auch mindestens 27 Kinder getötet worden.
Kaum Hilfe von Behörden
In Kabul seien in den zurückliegenden beiden Wochen mehr als 17.000 Flüchtlinge aus dem Norden angekommen, sagt Tamim Asimi, ein Sprecher des afghanischen Ministeriums für Katastrophenhilfe. Einige seien bei Verwandten untergekommen, andere würden sich in Parks oder auf den Straßen aufhalten.
In dem zentralen Park, in dem sich Karimi niedergelassen hat, gibt es bisher fast keine Hilfe von den Behörden. Einige Bewohner der Stadt haben den Geflüchteten begrenzte Mengen an Nahrung und Wasser gebracht. Karimi beklagt allerdings, dass sie nichts davon abbekommen habe, da ihr Mann in Kundus geblieben sei und die freiwilligen Helfer nicht mit ihr sprächen, weil sie eine Frau ist. „Ich bin seit dem Morgen hier und habe noch nichts zu essen bekommen“, sagt sie. „Soll ich meine Kinder in der brennenden Sonne hungern lassen?“ In dem Park stehen für etwa 400 Menschen nur zwei Toiletten zur Verfügung. Einige Kinder leiden bereits an Durchfall. Eine ärztliche Versorgung gibt es aber nicht – und einen Besuch in einem der Krankenhäuser in der Nähe können sich die meisten der Geflüchteten nicht leisten.
Deutschland setzt Abschiebungen nach Afghanistan vorerst aus
Bundesinnenminister Horst Seehofer habe sich für den Abschiebestopp „aufgrund der aktuellen Entwicklungen der Sicherheitslage entschieden“.
© Quelle: Reuters
Regierungsunterstützer einfach erschossen
In einem anderen Park am nördlichen Stadtrand von Kabul haben etwa 2000 Menschen ihr Lager aufgeschlagen. Auch sie haben bisher keine Hilfe von der Regierung bekommen. Eine von ihnen ist Sarmina Tachari. Sie sei aus ihrem Heimatdorf in der Provinz Tachar geflüchtet, nachdem die Taliban zwölf ihrer Verwandten getötet hätten, sagt sie. Vier, darunter ein Bruder und ein Onkel, hätten als Polizisten gegen die Extremisten gekämpft. Nach der Eroberung des Dorfes hätten die Taliban ihre Familie als eine mit Verbindungen zur Polizei identifiziert, ihr Haus aufgesucht und acht weitere männliche Verwandte erschossen.
Der 14-jährige Nasir Ahmed sagt, er habe gesehen, wie die Taliban einen Mann mit einem Gummischlauch ausgepeitscht hätten, weil auf seinem Handy ein Foto gewesen sei, auf dem er neben einer afghanischen Flagge posiert habe. Außerdem habe er gesehen, wie sie Frauen geschlagen hätten, weil sie deren Verschleierungen als unzureichend betrachtet hätten.
Un-Menschenrechtskommissarin: Mindestens 183 tote Zivilisten
Die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet erklärte am Dienstag, ihr Büro habe allein seit Montag mindestens 183 tote und 1181 verletzte Zivilpersonen in den Städten Laschkarga, Kandahar, Herat und Kundus gezählt. Sie betonte, dass es sich hierbei um bestätigte Fälle handle und die tatsächlichen Zahlen viel höher sein dürften. „Die Menschen fürchten zu Recht, dass eine Machtergreifung der Taliban die Menschenrechtsfortschritte der vergangenen zwei Jahrzehnte zunichte machen wird“, sagte Bachelet.
Aktuell flüchten die Menschen aber vor allem wegen der Kämpfe. Nadschia, die wie viele Afghanen nur einen Namen hat, kam nach eigenen Angaben am Samstag mit ihrem Mann und fünf Kindern in Kabul an. Sie seien geflüchtet, nachdem ihr Haus in Kundus Teil einer Front geworden sei, sagt sie. Aus allen Richtungen seien Kugeln und Granaten geflogen gekommen. „Und wir steckten mittendrin fest.“
RND/AP