„Taliban sind auf absolutem Höhepunkt“: Wie die neue Generation der Islamisten tickt und die Chancen auf einen Dialog stehen

Der Terrorismusexperte Professor Peter R. Neumann ist Professor für Security Studies am King’s College London.

Der Terrorismusexperte Professor Peter R. Neumann ist Professor für Security Studies am King’s College London.

Hnnover/London/Kabul. Die Taliban rücken immer weiter auf die Hauptstadt Kundus zu, gleichzeitig gibt es Verhandlungen mit der afghanischen Regierung in Doha. Ist eine diplomatische oder eine militärische Lösung in Sicht? Wie haben sich die Taliban verändert und welche Rolle spielt der Westen für die Taliban? Darüber haben wir mit Professor Peter R. Neumann gesprochen, Experte für islamistischen Terror und Gründer des International Centre for the Study of Radicalisation am Londoner King’s College.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Herr Neumann, inzwischen haben die Taliban fast die Hälfte der Provinzhauptstädte unter ihrer Kontrolle, auch den Großteil der ländlichen Regionen haben sie erobert. Jetzt stehen sie schon eine gute Stunde von Kabul entfernt. Überrascht Sie das Tempo?

Ja, die meisten Experten haben angenommen, dass die Taliban etwa ein Jahr nach dem Abzug aller Soldaten die Macht in Afghanistan zurückerobern. Aber dass sie es bereits vor dem Abzug am 31. August und in einer solchen Geschwindigkeit schaffen, das hat viele überrascht.

In den letzten Jahren war es sehr still um die Taliban – wo waren sie?

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Die Taliban waren immer im Land präsent und haben Teile des Landes weiterhin kontrolliert. Sie waren vor allem in den Bergen und auf dem Land aktiv. Anfang des Jahres hatten sie etwa ein Drittel des Landes unter ihrer Kontrolle. Viele Kämpfer hatten sich auch nach Pakistan zurückgezogen.

Die Kämpfer der Taliban sind heute offenbar recht gut ausgestattet. Wie finanzieren sie sich?

Die Taliban hatten schon immer viele unterschiedliche Einnahmequellen. Sie nehmen Steuern ein in den Gebieten, die sie kontrollieren. Aus dem Opiumhandel schlagen sie ebenfalls Profit, das machen aber viele in Afghanistan, inklusive Leute, die vom Westen unterstützt werden. Außerdem unterstützt auch die pakistanische Regierung die Taliban.

Wie haben sich die Taliban in den letzten Jahrzehnten verändert?

Die Taliban sind pragmatischer geworden und haben versucht, aus den Fehlern der 1990er-Jahre zu lernen. Damals wurden sie von Teilen der Bevölkerung sehr gehasst, weil sie zum Beispiel gegen religiöse Minderheiten vorgegangen sind. Das hat sich geändert. Sie geben sich versöhnlicher und wollen auch Mädchen erlauben, zur Schule zu gehen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

„Der ideologische Kern der fundamentalistisch-islamistischen Taliban ist geblieben.“

Peter R. Neumann,

Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London

Doch das bedeutet nicht, dass sich auch die Ideologie der Taliban geändert hat. Sie sind jetzt aber bereit, zur Durchsetzung ihrer Ideologie pragmatischer zu sein. Ich vermute, wir werden am ersten Tag nach der Machtübernahme keine Massenexekutionen sehen.

Sind die „neuen“ Taliban denn wirklich gemäßigter als früher?

Klar ist, solange westliche Medien und Regierungen genau nach Afghanistan schauen, werden sich die Taliban sehr gemäßigt geben und sich mit umstrittenen Aktionen zurückhalten. Aber wenn die internationale Aufmerksamkeit weg ist, könnten sich die ideologischeren Strömungen der Taliban im Land wieder durchsetzen. Der ideologische Kern der fundamentalistisch-islamistischen Taliban ist geblieben.

Aber bei einer Regierungsübernahme zeigt sich dann dieser ideologische Kern der Taliban?

Es gibt innerhalb der Taliban verschiedene Strömungen und derzeit ist völlig unklar, wer sich bei einer Regierungsübernahme durchsetzen wird: Einerseits gibt es die diplomatischeren Talibanvertreter, die gerade in Doha verhandeln und genau wissen, dass sie ihr Programm nach und nach umsetzen müssen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Andererseits gibt es aber auch einige junge Kommandeure, die sehr ideologisch geprägt sind und keine Kompromisse möchten. Welche dieser Strömungen wirklich das Sagen hat und ob man überhaupt von einer Organisation sprechen kann, wird sich erst in den nächsten Wochen zeigen. Davon wird später auch abhängen, wie die Taliban das Land regieren werden.

Ist unter diesen Voraussetzungen überhaupt ein Dialog des Westens mit den Taliban möglich?

Wir dürfen uns keine großen Hoffnungen auf einen Dialog machen. Die Taliban haben seit 20 Jahren dasselbe Ziel verfolgt: den Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan. Sie sind militärisch sehr stark und haben sich gute Beziehungen aufgebaut, etwa zu Pakistan, China und dem Iran. Die Frage ist auch: Worüber sollen wir mit den Taliban sprechen? Die wissen ganz genau, dass der Westen so schnell nicht zurückkommt.

Es müsste schon einen weiteren Anschlag wie den des 11. Septembers geben. Der Westen hat mit dem Rückzug seiner Truppen sein wichtigstes und einziges Druckmittel verloren. Die Taliban haben ihr Ziel erreicht, den Westen, die stärksten Militärmächte auf der Welt, zu vertreiben. Sie sind auf ihrem absoluten, triumphalen Höhepunkt. Weshalb sollten sie jetzt verhandeln wollen?

Derzeit gibt es Verhandlungen in Doha zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Es wird nach einer diplomatischen Lösung gerungen, während in Afghanistan gleichzeitig Fakten geschaffen werden. Sind die Taliban überhaupt an einer diplomatischen Lösung interessiert?

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Der militärische Vormarsch der Taliban erleichtert ihnen eine diplomatische Lösung. Das Ziel der Taliban ist, dass die afghanische Regierung von sich aus aufgibt. Das erreichen die Taliban am besten, indem sie auf dem Feld ihre Überhand demonstrieren. Meine Vermutung ist, dass sie am Ende eine Art Abkommen schließen wollen, auch um die Kämpfe im Land zu beenden und eine Regierung zu bilden.

Sie gehen also von einer Einigung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban aus?

Ich rechne mit einer Regierung unter Beteiligung von Ministern, die nicht den Taliban angehören. Aufgrund der militärischen Erfolge der Taliban werden sie aber eindeutig das Sagen haben. Möglicherweise geben sie ihren Gegnern ein oder zwei Posten, um so gegenüber der internationalen Gemeinschaft die Illusion aufrechtzuerhalten, dass es eine Teilung der Macht in Afghanistan gebe.

Laut des US-Geheimdienstes gab es die Einschätzung, dass Kabul in 30 bis 90 Tage an die Taliban fallen könnte.

Wenn selbst die Amerikaner sagen, dass Kabul in 30 Tagen fällt, wie überzeugen Sie dann einen Soldaten, in der afghanischen Armee zu kämpfen? Wir sehen, dass die Moral vieler Soldaten am Boden ist und viele den Kampf bereits aufgegeben haben.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

„Wir dürfen uns keine großen Hoffnungen auf einen Dialog machen.“

Peter R. Neumann,

Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London

Kaum ein Soldat will kämpfen, denn er muss fürchten, nach der Machtübernahme als Erstes exekutiert zu werden. Das macht den Taliban den Vormarsch derzeit so leicht.

Lassen Sie uns noch einen Blick in die Zukunft werfen: Der britische Verteidigungsminister hat am Freitag vor einer Rückkehr des Terrornetzwerkes Al-Kaida nach Afghanistan gewarnt, ebenso CDU-Außenpolitiker Röttgen gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Wie lässt sich verhindern, dass Afghanistan erneut zum Hort für Terrorismus wird?

Lange bestand die Hoffnung, dass die Taliban in einem Abkommen garantierten, keine Terrorgruppen im Land zu dulden. Im Gegenzug sollten die internationalen Truppen abziehen. Inzwischen hat man erkannt, dass ein solches Abkommen nichts wert ist. Die USA sowie die Nato-Partner gehen aber davon aus, dass die Taliban nicht offen mit Al-Kaida zusammenarbeiten möchten, zumindest für die erste Zeit.

Gleichzeitig hält die internationale Gemeinschaft Luftbasen im Umkreis von Afghanistan aufrecht und behält sich ein Eingreifen vor, wenn zum Beispiel Trainingscamps von Terrorgruppen entstehen. Die dritte Hoffnung ist, dass die Partner der Taliban, wie Pakistan und China, ebenso aufpassen, dass Afghanistan keine Heimat für den Terrorismus wird.

RND

Mehr aus Politik

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Top Themen

Krieg in der Ukraine
 

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken