Wie Deutschland bei der Integration afghanischer Geflüchteter hilft
Schüler in einer Grundschule im Stadtteil Sufaid Dheri in Peschawar.
© Quelle: Tim Szent-Ivanyi
Islamabad. Wenn Maryam Reza über die zurückliegenden Monate spricht, dann schwankt ihre Stimmung zwischen Traurigkeit und Wut. „Schauen Sie, was für schöne Teppiche wir in unserer Weberei in Kabul hergestellt haben“, sagt die Afghanin und zeigt auf ihrem Smartphone Bilder von farbenfrohen Läufern. „Ich war dort der Boss, nicht etwa mein Mann“, berichtet die 38-Jährige stolz. Daneben habe sie ehrenamtlich als Hebamme gearbeitet, um den Frauen in ihrer Nachbarschaft zu helfen. Doch das sei Vergangenheit. „Alles vorbei“, sagt sie und hat Tränen in den Augen. Nach der Machtergreifung der Taliban sei das Leben in Kabul unerträglich geworden. Schweren Herzens habe sie zusammen mit ihrem Mann entschieden, die Heimat zu verlassen und nach Pakistan zu fliehen. Das war vor einem Jahr.
Jetzt sitzt die Mutter von drei Kindern in einem Nähkurs in einem Sozialzentrum der pakistanischen Millionenstadt Rawalpindi und versucht, ihr erstes Kleid zu nähen. „Das wenige Geld, das wir bei der Flucht mitnehmen konnten, ist bald alle“, sagt sie. Deshalb nehme sie jede Gelegenheit wahr, Geld verdienen zu können. Aber das sei nicht der einzige Grund: „Es hat mich krank gemacht, untätig zu Hause rumzusitzen“, so die Afghanin. Sie ist kein Einzelfall. Der Leiter des Zentrums, Farhan Shamim, berichtet davon, dass wegen der Hoffnungslosigkeit viele Geflüchtete unter Depressionen leiden. „Die Menschen wurden plötzlich aus ihrem bisherigen Leben herausgerissen“, sagt er. Gerade Frauen hätten zudem oft Angststörungen durch traumatische Erlebnisse während der Flucht. Deshalb arbeiten auch Psychologinnen und Psychologen in dem Zentrum.
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Maryam Reza, afghanische Geflüchtete in Pakistan.
© Quelle: GIZ/Hashim Khan
In Afghanistan wurde die staatliche deutsche Entwicklungshilfe nach dem Fall Kabuls 2021 stark heruntergefahren – im Nachbarland Pakistan ist sie umso aktiver. Das Anlaufzentrum für afghanische Geflüchtete in der Zwillingsstadt der pakistanischen Hauptstadt Islamabad ist eines der Projekte der staatlichen Entwicklungsorganisation Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Ziel ist es, afghanischen Geflüchteten nicht nur das Überleben zu sichern, sondern ihnen einen Neustart zu ermöglichen. Denn eine Rückkehr in den Talibanstaat kommt für die meisten nicht infrage. Und ein Visum für ein Land im Westen zu ergattern ist praktisch ausgeschlossen.
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Pakistan hat Unterstützung dringend nötig, denn das Land hat eine immense Last zu tragen: Geschätzt bis zu drei Millionen afghanische Geflüchtete leben zum Teil seit Jahrzehnten in dem Land. Pakistan versorgt damit eine der größten Flüchtlingsgruppen weltweit. Zwar scheint der Anteil gemessen an der Bevölkerungszahl von 222 Millionen klein, doch Pakistan ist gerade so zur Riege der Schwellenländer zu zählen.
Beim UN-Index der menschlichen Entwicklung, der unter anderem die Lebenserwartung, das Bildungsniveau und das Pro-Kopf-Einkommen erfasst, liegt das Land nur auf Rang 154 von 189 Staaten. Gerade erst hat eine verheerende Flut große Teile des Landes verwüstet, fast acht Millionen Menschen haben ihr Zuhause verloren, auch mehr als 800.000 afghanische Geflüchtete sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks betroffen.
Die erste massive Fluchtwelle aus Afghanistan hatte Pakistan 1979 nach der Invasion der Sowjetunion in dem Nachbarland zu verkraften. Inzwischen lebt bereits die dritte Generation der Geflüchteten in dem Land. Die früheren Flüchtlingscamps sind längst von regulären Siedlungen kaum mehr zu unterscheiden, viele der früheren Bewohner und Bewohnerinnen sind aber auch in die großen Städte gezogen.
Die Geflüchteten sind allerdings weitgehend rechtlos, sie können nicht einmal einen Führerschein bekommen. Dieser Zustand ist seit Jahrzehnten Konsens in der pakistanischen Politik, um die Fluchtbewegung nicht noch zu fördern. Doch die Not der Afghanen und Afghaninnen ist so groß, dass sie sich nicht aufhalten lassen: Seit der Machtübernahme durch die Taliban sind Schätzungen zufolge mindestens 400.000 Menschen neu in Pakistan angekommen – die tatsächliche Zahl dürfte allerdings weit höher liegen, weil sich viele Neuankömmlinge aus Angst vor Abschiebung nirgendwo registrieren lassen.
Inzwischen wächst auch in der pakistanischen Führung die Erkenntnis, dass man die Geflüchteten in die Gesellschaft integrieren muss. „Diese Menschen wünschen sich nichts sehnlicher, als hier normal zu leben“, sagt der Regierungsbeauftragte für afghanische Geflüchtete der Grenzprovinz Chaibar Pachtunchwa, Muhammad Abbas Khan. Auch die seit 2021 neu angekommenen Geflüchteten würden wohl zum Großteil auf Dauer in Pakistan bleiben, erwartet Khan. Allenfalls 5 Prozent von ihnen hätten die Chance, tatsächlich ein Visum für die Weiterreise zu bekommen.
NGOs stellen Arbeit in Afghanistan ein
Die Talibanregierung hatte am Samstag alle in- und ausländischen NGOs angewiesen, ihrem weiblichen Personal bis auf Weiteres den Gang zur Arbeit zu untersagen.
© Quelle: Reuters
„Wir müssen uns der Realität stellen“, meint er und beschreibt sein pragmatisches Herangehen an die Probleme: Alles, was nicht ausdrücklich vom pakistanischen Gesetz verboten wird, soll auch den Afghanen zur Verfügung stehen, etwa der Schulbesuch. Dabei hilft Deutschland. Im Auftrag des Entwicklungsministeriums hat die GIZ ein Projekt entwickelt, um mehr afghanische Kinder in pakistanische Schulen zu bringen. Die Herausforderung: Gerade bei Hilfen für Geflüchtete muss immer darauf geachtet werden, auch die aufnehmenden Gemeinden einzubeziehen, damit keine Spannungen entstehen. „Ansonsten besteht die Gefahr, dass man Gräben aufreißt und damit das Gegenteil dessen bewirkt, was man erreichen will“, sagt GIZ-Landesdirektor Tobias Becker.
In der Provinz Chaibar Pachtunchwa wurde deshalb etwas tiefer in die entwicklungspolitische Trickkiste gegriffen. „Wir nutzen Strukturen, die es bereits gibt“, sagt Nina Harnischfeger, die bei der GIZ für das Projekt zuständig ist. In 60 Grundschulen wurden die bisher kaum genutzten Elternbeiräte reaktiviert und geschult, die über Lehrpläne mitbestimmen und über die Verwendung eines vom Staat zugewiesenen Budgets entscheiden können. Auf Anregung der GIZ werden in diesen Beiräten neuerdings afghanische Eltern zugelassen.
Auch in der Grundschule im Stadtteil Sufaid Dheri in der Provinzhauptstadt Peschawar beraten nun seit einiger Zeit Afghanen zusammen mit pakistanischen Eltern gemeinsam darüber, ob die Toiletten saniert oder die Klassenzimmer renoviert werden und wie die Zahl der Schulkinder – unabhängig von ihrer Herkunft – erhöht werden kann. „Wir hatten ehrlich gesagt bislang gar nicht die Idee, dazu auch Afghanen einzuladen, aber das hat sich sehr bewährt“, räumt Beiratssprecher Bahar Gul ein. Mit dabei in dem Gremium ist auch Shams ud Din, dessen Familie 1979 aus dem afghanischen Dschalalabad nach Pakistan geflüchtet war.
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Shams ud Din aus Afghanistan.
© Quelle: GIZ/Nadya Akbar
Der 45-Jährige, der als Schuster einen kleinen Laden betreibt, hat sechs Töchter und vier Söhne im Alter zwischen zwei und 17 Jahren. Zwei der Söhne gehen auf die Grundschule. Er will auf keinen Fall mehr zurück nach Afghanistan. Als seine Familie vor einigen Jahren versucht habe zurückzukehren, seien der Vater ermordet und ihr Haus niedergebrannt worden. „Den Taliban ist nicht zu trauen“, sagt der Afghane. Jetzt hilft er mit, andere afghanische Eltern davon zu überzeugen, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Das sei allerdings nicht so einfach, erzählt er. Denn viele seiner Nachbarn würden wegen ihres unsicheren Status Kontakte zu Behörden möglichst vermeiden. Außerdem hätten sie Sorge, Geld bezahlen zu müssen. Doch der Schulbesuch ist kostenlos, auch für Flüchtlingskinder.
Die Überzeugungsarbeit ist erfolgreich: Inzwischen ist rund ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler in der Grundschule aus afghanischen Flüchtlingsfamilien. „Ich möchte, dass meine Kinder später einmal im Ausland studieren können, auch die Mädchen“, sagt Shams ud Din. Auch die Mädchen? „Ja klar, sie sollen doch in ihrem Leben auch erfolgreich sein“, sagt der Afghane. Positiver „Nebeneffekt“ der aktivierten Elternvertretung: Inzwischen gehen auch 18 Kinder mit Behinderungen in die Schule. Die zunehmend selbstbewusster agierenden Eltern setzten auch durch, dass regelmäßig Spezialisten in die Schule kommen, um zum Beispiel das Sehvermögen der Kinder zu kontrollieren.
Maryam Rezas Kinder sollen auch bald in die Schule gehen. Sie selbst wird nach dem Abschluss des Nähkurses ein „Starterpaket“ bekommen, um das Gelernte in Geld umsetzen zu können: eine manuelle Nähmaschine, ein Bügeleisen, Garne und Fäden. Kostenpunkt: gerade einmal umgerechnet rund 80 Euro – eine vergleichsweise preiswerte Hilfe, die jedoch das Leben einer ganzen Familie sichern kann. Rezas erstes Kleid ist noch etwas groß geraten und schief geschnitten, doch die Afghanin spricht sich selbst Mut zu: „Das wird schon.“